- Kultur
- Nature Writing
Im Wald waltet Poesie
»Nature Writing« als literarische, subjektive Naturbeschreibung ist wieder beliebt. Kein Wunder: Das Genre greift Fragen auf, die uns heute mehr denn je beschäftigen
Der Berliner Verlag Matthes & Seitz vergibt einen hoch dotierten Preis für »Nature Writing« und hat die Reihe »Naturkunden« aufgelegt. Manesse hat den Klassiker »Walden« des Rebellen Henry David Thoreau neu herausgebracht. Viele Verlage haben mindestens einen Titel im Programm, der Naturthemen aufgreift. Und allerorten ist zu hören, dass es kein treffendes deutsches Wort für »Nature Writing« geben würde.
Schreibt da die Natur sich selbst? Nein, beim klassischen »Nature Writing« »ist die schreibende Person erkennbar am Prozess des Schreibens wie an den Prozessen des Beobachtens, Erkundens, Erlebens, des praktischen Umgangs mit Boden, Wasser, Tieren, Pflanzen und so fort beteiligt«. So erklärt es Ludwig Fischer, Literaturwissenschaftler, Naturtheoretiker und Verfasser des Buches »Natur im Sinn - Naturwahrnehmung und Literatur«, das im vergangenen Jahr bei Matthes und Seitz erschienen ist und schon als Standardwerk des Genres betrachtet werden kann.
Auch Richard Mabey schreibt in »Die Heilkraft der Natur« in der ersten Person. Darin hat der englische Schriftsteller bereits 2005 seinen Weg aus der Depression hinaus in die Natur beschrieben, mit unzähligen Querverweisen auf die Folgen der Aufhebung des Allgemeinbesitzes, der »Allmende«, auf Mensch und Natur. Delia Owens dagegen vereint in »Der Gesang der Flusskrebse«, 2019 bei Hanser erschienen, Kriminal-, Entwicklungs- und Abenteuerroman sowie das Feiern der Natur. Zugleich kann der Roman als Klassenstudie der Analphabetin Kya Clark und des Rassismus der USA in den späten 1960ern gelesen werden.
Bei Helen Macdonalds »H wie Habicht«, 2016 auf Deutsch erschienen, in der eine Frau nach dem Tod ihres Vaters versucht, einen Habicht zu zähmen, streitet sich die Literaturkritik, ob das Label »Nature Writing« überhaupt zutrifft. Weil darin nicht von Natur als etwas erzählt wird, das ungebändigt ist und sich frei entwickelt.
Dem hält Fischer entgegen, dass in dieser Kritik »wieder eine hochideologische Vorstellung von ›wilder‹ Natur als der eigentlichen Natur zum Maßstab erhoben ist«. Damit greift er einen bedeutsamen Aspekt und eine große Gefahr des »Nature Writing« auf. Und erklärt gleichzeitig, warum dieses Genre in Deutschland nach dem Hitlerfaschismus verpönt war und erst lange nach den angelsächsischen Ländern von den deutschen Leser*innen wiederentdeckt wurde. Wird Natur verklärt, überhöht, beispielsweise als Quelle des Germanischen, als Blut-und-Boden-Lyrik, dann muss diese Literatur mit Vorsicht gelesen werden. Ansonsten aber ist »Nature Writing« kein streng definierbares Genre.
Bei Limmat ist ein hochpolitisches wie literarisch sehr ästhetisches Werk erschienen: die »Wurzelstudien« von Anna Ospelt. Darin greift sie die Geschichte des deutschen Rätesozialisten, Antifaschisten und Verlegers Henry Goverts auf. In dessen Hamburger Verlag erschienen in der Hitlerzeit die deutschen Ausgaben von Herman Melvilles »Moby Dick« und »Vom Winde verweht« von Margaret Mitchell.
Die 1987 in Vaduz, Lichtenstein geborene Ospelt blickte als Kind auf einen Baum, auf den auch Goverts geschaut hatte, denn er war der Vorbesitzer des Hauses ihrer Eltern. Über diesen Baum entfaltet sie eine familiäre wie botanische Recherche: Anhand von Briefen, Aussagen von Weggefährt*innen und eben auch Naturbeobachtungen, verbindet sie Goverts Geschichte mit ihrer persönlichen Historie, begleitet von Bildern aus der Natur; feinsinnig und humorvoll auf der Suche nach den weit verzweigten Wurzeln. Völlig zu Recht hat sie für ihre »Kampfschrift an die Wurzeln« ein Stipendium der Stiftung Nantesbuch erhalten.
Robert Macfarlanes im Penguin Verlag erschienenes Buch »Im Unterland«, in dem er sich in die Höhlen der Welt begibt, wurde 2019 mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis ausgezeichnet. Jurymitglied Johann Hinrich Claussen, Theologe und selbst Autor, lobte es als »bestes Nature Writing«, es sei »ein Buch über unsere Art mit der Welt umzugehen, mit der Erde, in die Erde hineinzugehen« und »ein ganz neuer Zugang überhaupt zur Natur«. Mit dem »Nature Writing« geht eine starke Rückbesinnung auf die Natur einher, gefasst als Antipode zur Digitalisierung und zur häufig unerträglichen Beschleunigung der Lebenswelt. Es gehe um »Welterkenntnis durch Literatur«, wie es Matthes & Seitz-Verleger Andreas Rötzer formuliert hat. Durch die Erlebnisse in und mit der Natur erkennen wir bestenfalls schreibend und damit reflektierend, wie wir Krisen besser bewältigen.
Die Tradition des »Nature Writing« ist etwa 175 Jahre alt. 1845 zog sich der US-Amerikaner Henry David Thoreau in seine selbst erbaute Blockhütte an den See Walden in Massachusetts zurück und suchte dort in aller Abgeschiedenheit die »wahre Ganzheit«, die dem »arbeitenden Menschen« in der normalen Zivilisation verstellt sei, schlicht aus dem Grund, weil er dafür keine Zeit findet.
Zwei Jahre lang versorgte sich Thoreau selbst und verfasste dann »Walden - Ein Leben mit der Natur«. Bei Manesse ist nun eine Neuübersetzung von Fritz Güttinger erschienen. Thoreau fragt darin, wie Selbstbestimmung und ein naturnahes, ressourcenschonendes Leben gelingen können. Diese Thematik treibt die Menschen bis heute um.
Thoreau notiert minutiöse Beobachtungen der Tier- und Pflanzenwelt des Waldes und ökologische wie gesellschaftspolitische Argumente. Es gibt lebensnahe Anekdoten, die so oder so ähnlich Vegetarier*innen und Veganer*innen nicht fremd sein dürften: »›Man kann nicht ausschließlich von Pflanzenkost leben‹, erklärt mir ein Bauer‚ ›diese liefert nämlich nichts zum Aufbau der Knochen‹. Und so führt er sich denn Tag für Tag andächtig den Aufbaustoff für seine Knochen zu; dabei geht er, während er seinen Spruch zum Besten gibt, hinter den Ochsen her, die ihn und den schweren Pflug mit ihren aus Pflanzenkost aufgebauten Knochen über Stock und Stein schleppen.«
Thoreau gilt sowohl als Vater des »Nature Writing« als auch des zivilen Ungehorsams. Weil er keine Steuern zahlen wollte, um die Sklaverei zu unterstützen, ging er lieber in den Knast. 1849 veröffentlichte er den Essay »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat«. Diese Aktionsform erlebt derzeit - unter anderem durch »Fridays for Future«, »Ende Gelände« und »Extinction Rebellion« - eine politische Renaissance. Was zeigt, dass »literarische Trends« auch durch gesellschaftliche Entwicklungen beeinflusst werden. »Wenn es gut geht, sensibilisiert sie für Irrationalität und die Widersprüchlichkeit unseres vorherrschenden Naturbezugs«, schreibt Ludwig Fischer über naturnahe Literatur, »befeuert den Wunsch: Es soll anders werden - und damit die Protestenergie.«
Im »Nature Writing« gehen Schreiben und Natur eine Symbiose ein, durch die sich die Wahrnehmung des Menschen verändert, so beschreiben es viele der hier genannten Autor*innen. Es geht darum, in die Natur zu gehen, die eigenen Erfahrungen zu verschriftlichen und literarisch zu gestalten. Die Form ist dabei vielfältig und kombinierbar: Haiku, Novelle, Romane, Essays, angeregt durch Übungen aus indigenen Kulturen oder der Naturpädagogik. Wie der »Sit Spot« etwa, wo man die Natur von einem Stammplatz aus beobachtet.
Denn nicht jede*r muss sich monatelang in die ungezähmte Natur begeben und daran scheitern, wie in dem verfilmten Bestseller »Into the Wild« nach der gleichnamigen Reportage von Jon Krakauer (1996). Es wäre wünschenswert, dass dadurch praktische Protestenergie entsteht und ein besseres Verständnis der Natur und unserer Umwelt, um das Fortschreiten der Klimakrise zu stoppen oder zu verlangsamen.
Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse. A.d. Engl. v. Ulrike Wasel u. Klaus Timmermann, Hanser blau, 464 S., geb., 22 €; Helen MacDonald: H - wie Habicht. A.d. Engl. v. Ulrike Kretschmer, Ullstein, 416 S., brosch., 12 €; Richard Mabey, Judith Schalansky (Hg.): Die Heilkraft der Natur, Matthes & Seitz, 245 S., geb., 28 €; Ludwig Fischer: Natur im Sinn - Naturwahrnehmung und Literatur, Matthes & Seitz, 352 S., geb., 30 €; Robert Macfarlane: Im Unterland, A.d. Engl. v. Andreas Jandl u. Frank Sievers, Penguin, 560 S., geb., 24 €; Henry D. Thoreau: Walden oder Vom Leben im Wald. A.d. Engl. v. Fritz Güttinger, Manesse Bibliothek, 608 S., geb. 25 €; Anna Ospelt: Wurzelstudien, Limmat, 128 S., geb., 24 €
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!