Kirche, Priester und der Whiskey
Máirtín Ó Cadhain lässt seinen Helden beschwingt durch ein trauriges Dublin stolpern
Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine fiese Stimme. Die eine Schwägerin rief von ihm zu Hause aus an. »Schämst du dich gar nicht? Treibst dich rum, wo deine Frau eben erst gestorben ist!«
»Ja, sie ist gestorben«, sagte N. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Da seine Kollegen zuhörten, konnte er ihr nicht erzählen, dass er so viele Arbeitsstunden versäumt hatte, dass die Kündigung drohte. Er hatte ihr schon Dutzende Male erzählt, dass sie es im Büro an spitzen Bemerkungen wirklich nicht fehlen ließen, aber die Schwägerinnen hatten nun mal glauben wollen, dass er sich einfach nicht um seine Frau kümmerte …
Jeder kennt diese Situation: Man schiebt etwas so lange vor sich her, bis es fast unmöglich erscheint, es noch in Angriff zu nehmen. Wenn es sich aber um die Bestattung der eigenen Frau handelt, wird es doch irgendwann brenzlig. So geht es N., der gerade seine Frau verloren hat und sich nun um die Beerdigung kümmern müsste.
Stattdessen irrt er verloren durch Dublin, ohne Geld, Plan oder Whiskey, während die Menschen um ihn herum ihren Verrichtungen nachgehen, als wäre nichts geschehen. Allein mit seiner Trauer und seinem Gedankenkarussell, weiß er weder wohin noch was zu tun ist - und während die Zeit verstreicht, wird es immer unmöglicher, nach Hause zurückzukehren, wo zu allem Überfluss auch noch die bösen Schwestern seiner Frau lauern. Das ist typisch Ó Cadhain: komisch, skurril, sprachmächtig, tieftraurig und ohne jede Pathetik. Die unheimliche Nähe von Tragik und Komik durchzieht auch dieses letzte Meisterwerk des Autors, der nicht nur deshalb einer der Lieblingsdichter der Iren ist, betrachten sie sich selbst doch als Verkörperung ebendieser Nähe.
Máirtín Ó Cadhain wurde 1906 westlich von Galway geboren und starb 1970 in Dublin. Man sagt, bis zu seinem sechsten Lebensjahr habe er kein Wort Englisch gehört. Er war zunächst Lehrer, engagierte sich dann immer stärker in der Irisch-Republikanischen Armee und verlor 1936 seine Arbeit wegen Auseinandersetzungen mit dem örtlichen Pfarrer. Von 1940 bis 1944 war Ó Cadhain interniert und kehrte während dieser Zeit der IRA den Rücken; nach dem Krieg arbeitete er in Dublin als Übersetzer und Professor für Literatur. Am 18. Oktober 2020 jährt sich Máirtín Ó Cadhains Todestag zum 50. Mal, und in Irland dauern die damit verbundenen Feierlichkeiten das ganze Jahr über an, denn Ó Cadhain gilt als wichtigster irischer Autor des 20. Jahrhunderts.
»Endlich tot«, sagte er, da ihm nichts anderes einfiel.
»Ach, endlich!«, keifte die Schwägerin. »Man könnte meinen, dir hat das nicht früh genug kommen können. Endlich tot! Würdest du jetzt mal deinen Arsch herschwingen? Es muss doch noch alles vorbereitet werden …«
Die anderen Angestellten wussten, dass seine Frau gestorben war, und sie hatten ihm ihr Mitgefühl ausgesprochen. »Du hättest heute nicht unbedingt kommen müssen«, hatte der Chef gesagt. »So weit sind wir mit dem Mist nicht im Rückstand. Ein bisschen Unterstützung wäre allerdings trotzdem gar nicht schlecht, wo wir doch eine von den wenigen Behörden sind, die samstags geöffnet haben …«
»Soviel dazu«, sagte sich N., als er die Treppe hinunterstieg. Er dachte nicht an den Tod, sondern an die Beerdigung. Sie musste begraben werden. Die Vorbereitungen betrachtete er fast als eine gewisse Erleichterung, einfach, weil er etwas zu tun haben würde. Vielleicht könnte er sich der Aufmerksamkeit der beiden Schwägerinnen für eine Weile entziehen, dem ewigen giftigen Glotzen entkommen, mit dem sie ihn ständig durchbohrten. Siomón war großartig bei so was. Er würde ihm Sarg und Grab ein bisschen billiger besorgen. So einer war Siomón nämlich. Einer mit den richtigen Beziehungen. N. klingelte kurz durch. Und tatsächlich: Man hätte meinen können, Siomón freue sich darüber, dass jemand gestorben war; so konnte er einem Kumpel einen Gefallen tun. Er schlug ein Treffen im Zum Schwimmer vor.
N. wartete, während Siomón einen Bestattungsunternehmer anrief, der keine Ahnung hatte, wer er war. Siomón erzählte dem Mann von dem Rabatt, den er bei Lonagáin bekommen würde, doch N. wusste sehr gut, dass ein Sarg dort mehr kostete als in dem Laden, mit dem Siomón gerade telefonierte. Und - ja, richtig -, Siomón schwadronierte weiter über Eiche, Beschläge und allerlei vergoldete Teile. Schwadronierte vielleicht ein bisschen zu eifrig. N. schwante bald, dass Siomón von dem Handel auch etwas haben würde, und er verabschiedete sich, ohne eine endgültige Entscheidung getroffen zu haben. Siomón wartete noch auf zwei weitere Anrufe - er war schließlich ein vielbeschäftigter Mann -, was N. als Vorwand nutzte, um sich abzusetzen, und er sagte nichts darüber, wohin er wollte. Er wusste es selbst nicht …
Sie würden zwei Flaschen Whiskey brauchen. Die Schwägerinnen würden vielleicht erwarten, dass er etwas mehr springen ließ. Andererseits war Samstag und wunderbares Wetter und die Leute waren sicher übers Wochenende weggefahren. Kaum jemand würde etwas mitbekommen, bis es zu spät wäre, zum Haus zu kommen. Es wäre viel billiger, den Schnaps bei Ó Murchú zu kaufen. Wenn Tomás recht hatte, bekam man die Flasche da für ein Pfund achtzehn und sechs Pence, aber Siomón sagte, zur Hälfte sei das schließlich auch die Pisse des alten Ó Murchú. N. hatte so eine Ahnung, wo Tomás sich samstags herumtrieb. Wenn er Glück hatte, würde er ihn auf dem Weg zum Weizenkorn aufgabeln. Tomás hatte seine ganz eigenen Methoden, könnte man sagen, durch und durch, bis in die Fingerspitzen ein Mann von Welt, der die Dinge beim Namen nannte. Sie würden nur schnell einen trinken. Sie waren schon beim dritten und Tomás bestellte fröhlich weiter …
N. fiel ein, dass seine Frau zu Hause sicher noch nicht aufgebahrt war. Tomás fragte jemanden in der Kneipe, den N. nicht kannte. Der sagte etwas über eine Krankenschwester, die in der Nachbarschaft arbeitete, und schlug vor, dass N. sie anrief. Auf dem Weg zum Telefon ging N. auf, dass er nicht den geringsten Schimmer hatte, wer der Kerl war, und der Kerl hatte auch nicht den geringsten Schimmer, wer N. war. N. fand es ein bisschen komisch, dass so ein Kerl, der ihn überhaupt nicht kannte, diese Krankenschwester ins Spiel brachte. Dann fiel ihm etwas anderes ein. Die Kleinen Schwestern der Armen würden das doch für lau machen. Seine fiesen Schwägerinnen würden außer sich sein. Die wünschten sich eine rotzfeine weltliche Krankenschwester mit einem Sack voller Tricks, den sie niemals öffnete, und einer Handtasche, die so groß war wie sie selbst. Wer die Kleinen Schwestern holte, galt schon fast als Bettler. Das hatten sie gesagt, als er vorgeschlagen hatte, dass sie kommen und sich um seine Frau kümmern könnten, damit er mehr Zeit für die Arbeit hätte. Aber wenn erst eine von den Schwestern im Haus wäre, würde es schwer sein, sie wieder vor die Tür zu setzen …
N. war klar, dass das alles ein Vermögen kosten würde. Tee, Zucker, Spachteln und Schlucken, das allein würde schon Massen verschlingen, war aber doch nur das dünnere Ende des Steckens. Die Schwägerinnen würden den Rest organisieren, egal, was er sagte. Und sie würden sich um nichts in der Welt zurückhalten. Er stellte sich vor, wie die Ältere ihr Fischmaul in den Kuchen bohrte, den er extra für sie bestellt hatte. Denen war es doch schnurzegal, wie er danach weitermachen würde - ob tot oder lebendig, war denen doch egal -, für sie zählte allein, dass ihre eigene Schwester gestorben war …
N. blieb im Torweg stehen. Es würde so laufen: Die Schwägerinnen würden die Kleider und die Schuhe und alle anderen Sachen seiner Frau aussortieren und weggeben. Er würde von jetzt an knausern müssen, und er brauchte jeden Penny zum Überleben. Er würde viel weniger von der Steuer absetzen können, wenn überhaupt noch etwas. Aber dann fiel ihm ein, dass die Habseligkeiten eines Verstorbenen, und viel mehr noch einer Verstorbenen, oft an die Armen gegeben wurden, die Bettler auf der Straße. Er hatte aber auch gehört, dass die Heilsarmee diesen Kram kaufte und sogar richtig gut dafür bezahlte. Wenn sie nur aufkreuzten, ohne dass er sie bitten müsste! Er wusste ganz genau, was diese alten Zicken, die Schwestern seiner Frau, sagen würden: Christus lag noch nicht im Grab, als schon um seine Kleider gewürfelt wurde … Aber hallo, wenn dieses Problem so dringend war, sollte er es wohl besser sofort in Angriff nehmen …
In der Telefonzelle stand schon einer. N. drückte sich eine Weile dort herum, aber der Kerl schien nicht so bald aufhören zu wollen. N. musste noch ein Glas für Tomás holen, der sich zwischen ihnen und der anderen Clique herumdrückte. Weil er nicht auch noch Labhrás einen ausgeben wollte, ging er zurück zur Telefonzelle. Der andere war weg, bei den Kleinen Schwestern der Armen war besetzt, und bei der Heilsarmee rührte sich niemand. Vielleicht arbeiteten sie samstags nicht …
Und dann fielen ihm die Kirche und der Priester ein. Es gab so viel zu tun. Es war ein einziger Spießrutenlauf, und jede ausgestreckte Handfläche musste mit Geld geschmiert werden. Dabei war er auf Labhrás angewiesen. Der sammelte in der Pfarre Geld für die Kirche ein. Er war noch nicht mit der Hand im Opferstock erwischt worden, und das konnte man nicht von allen sagen. Er würde dem Küster ein Wörtchen ins Ohr flüstern und ansonsten tun, was immer der Heilige Geist ihm vielleicht eingab. Er würde dem Priester sagen, dass N. ein armer Mann war, dass seine Frau alle Hilfe brauchte, die sie bekommen konnte, wie er ja schon wusste, und durch ihre lange Krankheit hatte N. noch viel mehr zu bewältigen, außer der Beerdigung an sich. Das würde den Priester doch bestimmt ein wenig gnädiger stimmen, es musste einfach …
Dann kam N. ein weiterer Gedanke: Wäre es nicht besser, sie schon gleich an diesem Abend in die Kirche zu bringen? Das an sich würde doch einiges von dem Spachteln und Schlucken im Haus abwenden. Die fiesen Schwägerinnen würden auf die absolute Dringlichkeit der Beerdigungsfeier pochen, aber war das eigentlich so viel anders, als eine tote Maus unter die Erde zu bringen? Nicht sie musste jetzt noch weiterleben, sondern er selbst, und wenn er überhaupt leben wollte, wäre es besser, wenn er ein paar Pence in seiner Tasche verstaut hätte. Die Uhr tickte. Im Hintergrund plärrte die ganze Zeit das Telefon. Labhrás hatte N. total vergessen, während der draußen gewesen war. Er verbreitete sich über den Besuch, den er am Morgen dem Eisenwarenladen in der Sráid Bhoidicín abgestattet hatte: »Der hat noch immer die Schreibmaschine für dich zurückgelegt, N. Die ist so gut wie neu. Er sagt, es gibt da einige, die sie kaufen wollen … Aber, halt, dir geht es gerade gar nicht um die Schreibmaschine, richtig?«
N. wusste nicht wirklich, was in ihm vorging oder wie große Sorgen er sich tatsächlich machte, es wurde ihm einfach alles zu viel. Da die Schreibmaschine nun schon aus der Rumpelkammer der Erinnerung gezerrt worden war, würde sie jetzt brennen wie eine Blase auf seiner Hand oder eine Fußverletzung, die nicht heilen wollte. N. schrieb ab und zu ein bisschen für Radio und Fernsehen. Das getippte Wort hatte eine Aura, wie sie im Büro sagten, die handschriftliches Gekritzel niemals erlangen konnte. Wenn N. die schicken Drucksachen von Rundfunk und Regierung sah, dachte er immer, ein handschriftlicher Text sei wie eine unverheiratete Frau. Er hatte an diesem Morgen gerade Notizen für einen Fernsehkommentar, der in der offiziellen Version dann in Fachchinesisch ersticken würde, auf ein Stück Papier geworfen, als er die Nachricht von ihrem Tod erhalten hatte. Diese Nachricht hatte in seinem Kopf gerade noch Platz für eine andere Tatsache gelassen: dass er an diesem Nachmittag mit Colm vom Fernsehen und dessen Leuten aufs Land hinausfahren sollte.
Máirtín Ó Cadhain:
Die Asche des Tages
Aus dem Gälischen von Gabriele Haefs
Kröner-Verlag
160 S., geb., 18,00 €
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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