Nicht so schlimm wie erwartet

Im Euroraum waren zuletzt 12,8 Millionen Menschen ohne Arbeit, in Deutschland knapp drei Millionen

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 5 Min.

Geht es nach Hubertus Heil, ist erst mal das Gröbste überstanden. »Der coronabedingte Anstieg der Arbeitslosigkeit ist vorerst gestoppt«, sagte der Bundesarbeitsminister und SPD-Mann am Dienstag anlässlich neuer Arbeitsmarktzahlen. Der Arbeitsmarkt stehe durch die Pandemie aber weiter unter Druck. Denn im August waren 636 000 mehr Menschen ohne Arbeit als im Vorjahr. Und auch die Zahl der Beschäftigten in Kurzarbeit geht zwar zurück, doch wurden zuletzt im Juni noch immer 5,36 Millionen mit diesem Instrument vor der Arbeitslosigkeit geschützt. So blieb die Zahl trotz eines Anstiegs im August mit 2,955 Millionen immerhin noch knapp unter der Marke von drei Millionen Arbeitslosen.

Laut Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) geht es auch schon wieder bergauf. Im Gesamtjahr 2020 wird die Wirtschaftsleistung laut der von ihm veröffentlichten Regierungsprognose um 5,8 Prozent schrumpfen. Noch im Frühjahr waren Altmaier & Co. von einem Minus von 6,3 Prozent ausgegangen. Nächstes Jahr soll die Wirtschaft dann um 4,4 Prozent wachsen.

Ob Altmaiers Optimismus verfrüht ist, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Zumindest ist die Lage auf dem europäischen Arbeitsmarkt nicht so gut wie hierzulande. Nach am Dienstag veröffentlichten Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat lag die Arbeitslosigkeit im Euroraum im Juli bei 7,9 Prozent. Damit waren in der Währungsunion 12,8 Millionen Menschen ohne Arbeit. Das waren 344 000 oder 0,2 Prozentpunkte mehr als im Juni. Dabei sind die Zahlen von Eurostat mit jenen der Bundesagentur für Arbeit nur bedingt vergleichbar, weil Eurostat eine strengere Definition dazu anwendet, wer arbeitslos ist und wer nicht. So misst Eurostat für Deutschland eine Arbeitslosigkeit im Juli von 4,4 Prozent, während es bei der Bundesagentur für Arbeit 6,3 Prozent sind.

Dennoch ist Andrew Watt verhalten optimistisch. »Es ist überraschend, wie wenig die Arbeitslosigkeit in Europa bisher gestiegen ist«, sagt der Experte für europäische Wirtschaftspolitik vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Zwar beträgt die Arbeitslosigkeit etwa in Spanien derzeit 15,8 und Italien 9,7 Prozent, doch ist sie dort noch deutlich niedriger als während der Eurokrise. In Italien hat die Quote im Vergleich zum Vorjahresmonat stagniert, in Frankreich, das auch hart von der Coronakrise getroffen ist, ging sie sogar zurück: von 8,5 Prozent im Juli 2019 auf 6,9 Prozent im Juli 2020.

Laut Ökonom Watt könnte der geringe Anstieg zwei Gründe haben: Der erste, weniger beruhigende Grund wäre, dass sich etliche Personen dem Arbeitsmarkt entzogen haben, weil sie sich in der Krise um Kinder und Angehörige kümmern müssen. Sie haben vielleicht ihren Job verloren, sich aber nicht arbeitslos gemeldet und tauchen so auch nicht in der Statistik auf. Watt wartet deshalb auf Statistiken zur Beschäftigung, die zeigen könnten, ob er mit seiner Vermutung recht hat oder nicht.

Der zweite Grund: Die Staats- und Regierungschefs haben tatsächlich vielleicht auch etwas aus der Eurokrise gelernt und Maßnahmen ergriffen, die wirken. So verständigten sich die EU-Mitglieder Ende Juli auf ein gemeinsames 750 Milliarden Euro schweres Corona-Konjunkturprogramm. Davon sollen 390 Milliarden Euro als Zuschüsse und 360 Milliarden Euro als Darlehen an notleidende Staaten gegeben werden. Dabei wäre nicht nur das Volumen vor der Pandemie undenkbar gewesen, sondern vor allem auch, dass die EU das Geld dafür auf dem Kapitalmarkt einsammeln will. Während der Eurokrise waren gemeinsame EU-Schulden noch ein Tabu, gegen das man sich besonders in Deutschland stemmte.

Vor allem aber gibt es mittlerweile in fast jedem EU-Land Kurzarbeiterregelungen, die die Arbeitslosigkeit niedrig halten. Laut einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung und des Europäischen Gewerkschaftsinstitutes wurde auf dem Höhepunkt des Lockdowns Ende April für rund 42 Millionen Menschen in der EU Kurzarbeit beantragt. Gemessen an der Beschäftigtenzahl war ihr Anteil mit 47,8 Prozent in Frankreich am höchsten, gefolgt von Italien (46,6 Prozent) und Luxemburg (44,5 Prozent).

Um notleidende Mitglieder bei der Zahlung des Kurzarbeitergeldes zu unterstützen, hat die EU im Mai das SURE-Programm auf den Weg gebracht. Es sieht Hilfsdarlehen in Höhe von insgesamt bis zu 100 Milliarden Euro vor. Rund 87 Milliarden hat die EU-Kommission bisher schon verplant. Sie sollen an 16 Länder fließen, die ansonsten zu weitaus höheren Zinsen Schulden auf dem Kapitalmarkt aufnehmen müssten. So sollen etwa 27,4 Milliarden an Italien und 21,3 Milliarden an Spanien fließen - insofern der EU-Rat dem Plan der Kommission zustimmt.

All die neuen EU-Hilfen haben laut IMK-Forscher Watt aber einen Konstruktionsfehler: Zwar stellt jetzt die EU Mittel in bisher ungekanntem Ausmaß zur Verfügung, doch sind die Programme, für die diese Mittel aufgewendet werden, alle national geplant. »Was fehlt, ist ein genuin europäisches Projekt«, sagt Watt. Dieses könnte nach der Euro- und Coronakrise Europa wieder enger zusammenbringen.

Watt schlug deshalb zusammen mit anderen Ökonomen jüngst die Schaffung eines EU-Investitionsprogramms in Höhe von 1,5 Billionen Euro und mit einer Laufzeit von zehn Jahren vor. Dieses Geld könnte zu sehr niedrigen Zinssätzen auf dem Kapitalmarkt eingesammelt und für EU-weite öffentliche Investitionen in Bereichen wie Verkehrsin-frastruktur, Stromnetze, Klimaschutzprogramme und nicht zuletzt öffentliche Gesundheit genutzt werden. Ein konkreter Vorschlag wäre ein europäisches Hochgeschwindigkeitseisenbahnnetz.

Und auch hierzulande ist bei den Krisenmaßnahmen laut der Opposition noch Luft nach oben. »Kurzarbeitergeld und Arbeitslosengeld sind zu niedrig, um davon einigermaßen leben zu können. Während Staatshilfen an Großunternehmen gezahlt werden, die dann trotzdem Beschäftigte entlassen, gehen viele kleine Unternehmen und Soloselbstständige leer aus«, erklärte die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Sabine Zimmermann. Sie fordert deshalb unter anderem die Anhebung des Kurzarbeitergeldes auf 90 Prozent des Nettoentgelts, für Beschäftigte auf Mindestlohnniveau auf 100 Prozent.

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