Nebeneinander statt zusammen

Neue Studie zu bekanntem Befund: Nach 30 Jahren »Einheit« ist die Sicht darauf sehr unterschiedlich

Es ist eigentlich keine neue Erkenntnis: Für die meisten Westdeutschen änderte sich nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik lange Zeit wenig. Das prägt auch ihre Sicht auf die »Brüder und Schwestern« im Osten, die vielfach zwischen leichter Herablassung und Gleichgültigkeit oszilliert. Dagegen bedeutete die »Wiedervereinigung« für eine Mehrheit der Ostdeutschen gravierende Einschnitte im persönlichen Leben.

Eine Studie, die die Bertelsmann-Stiftung am Montag veröffentlichte, illustriert das erneut. Die »Einheit« sei für die Menschen im Osten mit »teilweise dramatischen biografischen Umbrüchen« verbunden gewesen, wird in dem Untersuchungsbericht konstatiert. Dagegen hätten Westdeutsche häufig keinen persönlichen Bezug zu den Ereignissen des Jahres 1990, erklärte Kai Unzicker von der Bertelsmann-Stiftung am Montag in Gütersloh. Ostdeutsche sähen die Einheit als Geschichte der »friedlichen Revolution«, die die »Wende« herbeigeführt habe. Nach der Wahrnehmung im Westen ist die DDR an ihren wirtschaftlichen und politischen Unzulänglichkeiten gescheitert, woraus zwangsläufig die Vereinigung gefolgt sei.

84 Prozent der befragten Ostdeutschen glauben, dass im Zuge der Staatenfusion viele Dinge verloren gingen, die in der DDR gut funktioniert haben. »Die Befragten im Osten empfinden es vielfach so, dass damals keine neue gemeinsame Gesellschaft entstanden sei. Vielmehr sei ihnen mit der Einheit nur das westdeutsche System übergestülpt worden«, erklärte Jana Faus vom Berliner Forschungsinstitut pollytix, das die Studie durchgeführt hat.

Weiterhin gaben von den ostdeutschen Befragten 83 Prozent an, in der Zeit nach dem Anschluss unfair behandelt worden zu sein. Zudem fühlen sich rund 60 Prozent von ihnen noch heute wie Bürger zweiter Klasse beurteilt. Insgesamt ist die Vereinigung für 90 Prozent der Deutschen ein Ereignis, das großen oder sehr großen Einfluss auf das Land hatte. Der Anteil derer, für die es einen großen oder sehr großen Einfluss auf das eigene Leben hatte, ist im Osten mit 74 Prozent größer als im Westen (61 Prozent).

Das Besondere an der Untersuchung: Es wurde auch die Perspektive von Menschen mit Migrationsgeschichte einbezogen. Sie ähnelt zwar überwiegend der westdeutschen Sicht. Zugleich fühlen sich auch unter ihnen rund 60 Prozent als Bürger zweiter Klasse. Wie bei den Ostdeutschen spielen für sie Abwertungserfahrungen und Auseinandersetzungen über die eigene Identität eine größere Rolle als bei Westdeutschen. Migranten erinnern sich in Verbindung mit Ostdeutschland insbesondere an rassistische und fremdenfeindliche Ereignisse. Für die Studie wurden in ost- und westdeutschen Städten 50 Tiefeninterviews sowie Gruppendiskussionen geführt. Anschließend wurden die Ergebnisse in einer Onlinebefragung mit knapp 1600 Teilnehmenden überprüft. Seite 11

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