- Politik
- Moria
Seehofer unter Zugzwang
Der deutsche Innenminister versucht bislang vergeblich, die europäische Asylpolitik zu reformieren
Lesbos ist weit weg, 1782 Kilometer Luftlinie von Berlin. An vielen Tagen im Jahr ist die Insel wohl auch aus dem Sinn der meisten Menschen, die in Deutschland leben. Und doch ist das überfüllte Flüchtlingslager Moria auf Lesbos Sinnbild einer gescheiterten europäischen Flüchtlingspolitik. Schon seit Jahren kann die Europäische Union sich nicht auf eine Reform der Asylpolitik einigen, so dass eine Verteilung von Hilfesuchenden auf einzelne Mitgliedstaaten ausbleibt. Eine Folge: die überfüllten Flüchtlingslager an der Außengrenze der EU, in denen unhaltbare Zustände herrschen. Rund 12 600 Menschen lebten zuletzt in dem Camp Moria, das eigentlich nur für 2800 Personen ausgelegt ist.
Nach dem verheerenden Brand in dem Lager in der Nacht zum Mittwoch, bei dem große Teile des Lagers zerstört und Tausende Geflüchtete obdachlos wurden, war die sächsische Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Linke) empört: »Was dort geschieht, ist eine Katastrophe mit Ansage. Es war absehbar, dass es zu einem Corona-Ausbruch kommen würde, und es ist seit Monaten klar, dass den dort dahinvegetierenden Menschen etwa durch Brände große Gefahr droht.« Von anderen Linke-Politikern waren am Mittwoch ähnliche Wortmeldungen zu hören. Die politisch Verantwortlichen in der EU, aber auch in Deutschland müssten sich den Vorwurf gefallen lassen, trotz etlicher Warnungen aus der Zivilgesellschaft untätig geblieben zu sein, monierten sie.
Erst am Montag hatten Hilfsorganisationen 13 000 Stühle auf der Wiese vor dem Berliner Reichstagsgebäude aufgestellt, um auf die Zustände in Camp Moria aufmerksam zu machen. »Lager evakuieren, der Platz ist da!«, lautete das Motto der Aktion. Vertreter des Netzwerks Seebrücke, der Initiativen LeaveNoOneBehind und Campact sowie der Seenotrettungsorganisation Sea-Watch erklärten, das Schweigen in Deutschland über die unhaltbaren Zustände in den Camps sei inakzeptabel.
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) nannte den Brand eine »humanitäre Katastrophe« und kündigte an, mit der EU-Kommission und anderen EU-Mitgliedstaaten schnellstens zu klären, wie Griechenland unterstützt werden könne. »Dazu gehört auch die Verteilung von Geflüchteten unter Aufnahmewilligen in der EU.« Die SPD-Fraktion im Bundestag würde eine umgehende Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland begrüßen. Die Koalitionspartnerinnen CDU und CSU sprachen sich aber gegen einen deutschen Alleingang aus. »Die neueste Entwicklung auf Lesbos macht deutlich, wie dringend eine europäische Antwort auf die Flüchtlingsentwicklung ist«, sagte der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg (CDU). Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) nahm Kontakt zur griechischen Regierung auf, um zu erörtern, welche Hilfe benötigt wird.
Der Druck auf Seehofer, weitere Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen, ist indes gestiegen. Mehrere Bundesländer forderten, Hilfsbedürftige aus dem Camp Moria einreisen zu lassen. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) verlangte, bis zu 1000 Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen. »Die Bilder sind bestürzend. Die Menschen auf der Flucht haben nach dem Feuer alles verloren, selbst das einfache Dach über dem Kopf«, erklärte er seinen Vorstoß.
Auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) richtete einen dringenden Appell an die Bundesregierung und die EU-Kommission, jetzt endlich die Grenzen »für diese verzweifelten Frauen, Männer und Kinder zu öffnen«. Sein Bundesland habe schon länger eine Aufnahme von Migranten aus Moria angeboten, aus rechtlichen Gründen seien ihm aber bislang die Hände gebunden. Seehofer hatte im Juli die Landesaufnahmeprogramme von Berlin und Thüringen gestoppt. Er wolle die Verhandlungen für eine europäische Asylpolitik nicht gefährden, hatte er dies begründet.
Verlogene Menschenfeinde
Die mächtigsten Politiker Deutschlands zeigen sich betroffen vom Brand des Flüchtlingslagers in Moria - und weigern sich etwas zu tun
Als Deutschland im Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hatte, kündigte Seehofer an, den Vorsitz für eine Reform des europäischen Asylsystems nutzen zu wollen. Er kritisierte, dass sich vor allem osteuropäische Mitgliedstaaten weigerten, Flüchtlinge aufzunehmen, und kündigte an, wer sich bei einer Verteilung nicht beteilige, müsse das »System anderweitig unterstützen«. Wie, das ließ er offen. Außerdem will Seehofer bereits an den EU-Außengrenzen prüfen lassen, ob die Einreisenden asylberechtigt seien. Auch dies ist eine Forderung, die in absehbarer Zeit nicht umsetzbar ist. Bislang sind keine Fortschritte für eine gemeinsame Asylpolitik zu erkennen.
Immerhin versprach EU-Innenkommissarin Ylva Johansson am Mittwoch umgehend die Aufnahme von 400 unbegleiteten Minderjährigen aus dem Lager. Die EU werde den Transfer und Unterbringung dieser Kinder und Jugendlichen aufs Festland finanzieren, erklärte die Schwedin.
Forderung nach Evakuierung und Aufnahme von Flüchtlingen
Der Brand im griechischen Flüchtlingslager Moria hat viele Reaktionen ausgelöst. Die Forderung nach schneller Hilfe werden lauter.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.