Moria: Die Grenze der europäischen Humanität

Der Brand im Flüchtlingslager war keine Naturkatastrophe, sondern ein Verbrechen mit Ansage

  • Fabian Hillebrand
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Feuer auf Moria war nicht das erste seiner Art. Die Liste der Brände ist so lang, wie die Konsequenzen, die europäische Entscheider daraus getroffen haben, fadenscheinig waren. Auch Aufstände der Flüchtlinge hat es immer wieder gegeben. Die Unterbringung auf dem ehemaligen Militärgelände war kalt und unwürdig.

Zeitweise über 20.000 Menschen lebten in Moria, zusammengepfercht auf engstem Raum. In einem Lager, das eigentlich für 3000 Personen ausgelegt war. Auf 1300 Menschen entfiel ein Wasserhahn. In dem Lager trugen erwachsene Frauen Windeln – um Nachts nicht auf Toilette gehen zu müssen. Die Gefahr einer Vergewaltigung war zu groß. In dem Lager dachten kleine Kinder an Selbstmord und verletzten sich selbst. Dann kam Corona. Abstand halten war den Menschen im Lager unmöglich, der Ausbruch des Virus war nur eine Frage der Zeit. Die griechische Regierung wollte einen Zaun um das Lager bauen. Während der Tourismus auf der Insel wieder anlief, obwohl es auf dem Festland etliche Corona-Fälle gab, verhängte die Regierung eine Ausgangssperre über das coronafreie Lager Moria. Am 177. Tag der Ausgangssperre brannte Moria ab.

Die Frage, wer am Ende das Streichholz in dieses höchst brennbare Gemisch geworfen hat, ist eigentlich gänzlich uninteressant.

Es war eine Katastrophe mit Ansage. Wobei schon das Wort Katastrophe das Verbrechen verschleiert. Was wir auf Moria sahen, war politisches Kalkül. Auch wenn die Bilder des Feuers eine Naturkatastrophe suggerieren - die Flammen sind die Konsequenz einer Politik, die Menschlichkeit als Pull-Factor interpretierte. Die meinte, wenn wir die Menschen aus Afrika zu gut behandeln, kommen mehr von ihnen. Die meinte, man könne ganze Kontinente ausbeuten und Tausenden Menschen ihre Lebensgrundlage entziehen, wenn man nur genug Soldaten an den Grenzen aufmarschieren lässt.

Etliche Politiker fordern nun die Evakuierung der Menschen aus dem Lager in Moria. Von der Abschaffung des unmenschlichen Asylsystems sprechen sie nicht. Auch nicht davon, die etlichen anderen Lager zu evakuieren, in denen weit mehr als 40.000 Menschen auf die kommende Katastrophe warten. Immerhin fordern einige sofortige Konsequenzen. Das ist besser als das Gerede anderer Politiker, die von einer »europäische Lösung« sprechen. Die wollen einfach weiter abwarten.

Das Sprechen von einer »Europäischen Schande« leitet trotzdem fehl. Die Zustände auf Moria waren nicht die Ausnahme der europäischen Asylpolitik, im Gegenteil: Auf der Insel Lesbos wurde zur Abschreckung von verzweifelten Menschen ein grauseliges Spektakel in Szene gesetzt. Und Moria war das Zentrum dieser Vorstellung.

Die »europäische Idee« ist nicht in Moria verbrannt, zumindest nicht, wenn damit gemeint ist, dass die Humanität dort zugrunde ging. Die Entwicklung der Europäischen Union ist eng verbandelt mit der Entwicklung einer abschreckenden Flüchtlingspolitik. Mit dem Beitritt zur Europäischen Union fing Spanien an, militärisch seine Grenzen zu sichern. Dies geschah auf Druck der anderen Staaten – Spaniens Grenzen waren nun die ihren. In der Europäischen Union war die Freizügigkeit der einen immer schon mit der Abschottung vor den anderen verbunden. Spanien schloß dann ein Rückführungsabkommen mit Marokko ab, viele weitere sollten folgen.

Das wohl berühmteste ist das EU-Türkei-Abkommen. Erst dieser Pakt machte Moria zum EU-Hotspot und zum überfülltesten und unmenschlichsten Lager auf der Insel Lesbos.

Es kann nur gehofft werden, dass das Ende von Moria, einem Lager, das es nie hätte geben dürfen, auch das Ende der europäischen Abschottung einleitet. Wahrscheinlicher ist, dass Moria wieder aufgebaut wird. Vielleicht bekommt es einen neuen Namen, oder einen neuen Ort. Im Jahr 2009 wurde nach langen Protesten das Lager Pagani geschlossen. Aktivist*innen hatten immer wieder die unmenschlichen Unterbringungen kritisiert. Es befand sich auf der Insel Lesbos, nur wenige Kilometer entfernt von Moria.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.