- Wirtschaft und Umwelt
- Freizügigkeitsgesetz
»Das führt zu dramatischen Situationen«
Claudius Voigt über die geplante Änderung des Freizügigkeitsgesetzes
Vergangenen Donnerstag wurde im Bundestag über einen Gesetzentwurf zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes debattiert. Was für Auswirkungen hätte die geplante Änderung?
In dem Entwurf sind einerseits Erleichterungen für in Deutschland lebende EU-Bürger enthalten. Der Familiennachzug von weiter entfernten Verwandten wird vereinfacht. Das sind Erleichterungen, die Deutschland auf Grund der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes schon seit vielen Jahren hätte umsetzen müssen. Sowohl dieser, als auch die Europäische Kommission verlangen das schon seit Jahren. Es gab bereits ein eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik. Mit dem Gesetzentwurf hat Deutschland jetzt anerkannt, dass das eben auch umgesetzt werden muss. Es geht dabei um nicht-eheliche, nicht-eingetragene Lebenspartner. Außerdem um Pflegekinder, und generell um Personen, die weiter entfernt verwandt sind als die Kernfamilie. Da werden Möglichkeiten geschaffen, dass die Familienangehörigen zu ihren schon in Deutschland lebenden EU-Bürgern nachziehen können. Diese Regelungen sind zwar sehr restriktiv gehalten, aber sie sind zumindest ein Schritt nach vorne.Was soll im Freizügigkeitsgesetz noch geändert werden?
Claudius Voigt ist Mitarbeiter der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. (GGUA). Der Verein bietet soziale und aufenthaltsrechtliche Beratung für Flüchtlinge an. Außerdem setzt sich GGUA für die Verbesserung der Lebensbedingungen und der Inklusion von Flüchtlingen und anderen Migrant*innen ein. Claudius Voigt bietet bundesweit Fortbildungen, Schulungen und Seminare für haupt- und ehrenamtliche Berater*innen an. Mit ihm sprach Lisa Ecke.
In dem Gesetz werden auch Sozialleistungen für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger ausgeschlossen. Das kritisieren wir massiv. Die Bundesregierung will damit einen weiteren Leistungsausschluss von Menschen, die aus gutem Grund in Deutschland leben.
Was ist denn ein guter Grund?
Betroffen von dieser Neuregelung wären zum Beispiel zwei Elternteile aus EU-Ländern, die nicht miteinander verheiratet sind und die ein gemeinsames Kind haben. Einer der beiden ist hier erwerbstätig, und hat dadurch, ebenso wie das Kind, ein Freizügigkeitsrecht. Dadurch besteht auch ein Anspruch auf Leistungen vom Jobcenter, sofern das Einkommen nicht ausreicht. Das ist beispielsweise oft bei Teilzeitarbeit der Fall. Der andere Elternteil ist selber aber nicht Arbeitnehmer, sondern kümmert sich um das Kind. Wenn die Eltern nicht verheiratet sind, ist der nicht erwerbstätige Elternteil von Hartz-IV-Leistungen ausgeschlossen.Wie war die Regelung bisher?
Viele Jobcenter und auch Sozialgerichte haben es bisher so gelöst, dass sie dem anderem Elternteil ein sogenanntes fiktives Aufenthaltsrecht nach dem Aufenthaltsgesetz zugesprochen haben. Denn es liegt ja nahe, wegen dem Schutz der Familie auch dem anderen Elternteil zuzugestehen, hier leben zu dürfen und auch einen Anspruch auf Leistungen zu haben. Das Freizügigkeitsgesetz hat bisher für diese Fälle nichts vorgesehen, aber es gab eindeutige Rechtssprechungen verschiedener Sozialgerichte bis hoch zum Bundessozialgericht und kürzlich sogar bis zum Bundesverfassungsgericht.Und was soll in der Gesetzesänderung dazu festgelegt werden?
Jetzt sollen die Leistungen an den anderen Elternteil ausgeschlossen werden. Es sei denn, die Ausländerbehörde erteilt dem anderen Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis - was die Behörde aber nicht tut, weil sie sagt, ein EU-Bürger brauche diese nicht.Welche Auswirkungen auf die Betroffenen wird das haben?
Man verlangt indirekt, dass ein Elternteil ins Herkunftsland zurückkehren muss, während der Partner mit dem Kind hier bleiben kann. Das ist völlig absurd. Diese Verschlechterung der Sozialleistungen wird dazu führen, dass auch Menschen, die schon sehr lange in Deutschland leben, auf einmal von den Leistungen ausgeschlossen werden. Sie werden ausgehungert und drohen zu verelenden.Ist der Ausschluss von Sozialleistungen also eine neue Entwicklung?
Dass die gesetzlichen Regelungen für EU-Bürger zum Sozialleistungsanspruch verschärft werden, ist eine Tendenz, die wir seit vielen Jahren feststellen. Sie sind bereits in vielen Fällen von Hartz IV ausgeschlossen und es werden immer mehr. Das führt zu dramatischen Situationen, weil Menschen nicht einmal mehr wissen, wovon sie ihre Lebensmittel bezahlen sollen. Das heißt, Menschen, die rechtmäßig in Deutschland leben, werden dazu gezwungen, dauerhaft sehr weit unterhalb des Existenzminimums zu leben.Was hat das für Auswirkungen auf die Kinder?
Es wird ein unglaublicher Druck auf die Eltern aufgebaut, dass beide in Arbeit gehen müssen - egal wie prekär und ausbeuterisch diese auch sein mag. Das gilt sogar dann, wenn das Kind unter drei Jahre alt ist. Bei Familien mit deutscher Staatsangehörigkeit wird das so nicht verlangt. Es gibt durch die geplante Gesetzesänderung also eine massive indirekte Diskriminierung zwischen Deutschen und Staatsangehörigen anderer europäischer Länder, was auch europarechtlich unzulässig ist.Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.