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Symbole indigenen Aufbruchs
Ein markanter Stil mit eigener Form- und Farbsprache prägt die moderne Architektur in der zweitgrößten bolivianischen Stadt.
Viacha«, ruft der Busfahrer, »Ecke Hospital Corea« und bremst den Kleinbus ab. Fahrgäste steigen aus, andere warten, um in das bunt lackierte Gefährt einzusteigen. Das Krankenhaus ist ein wichtiger Orientierungspunkt in dem Stadtteil, der andere befindet sich gleich gegenüber: eine »Perlenkette« von mehrstöckigen Häusern, deren Fassaden von mehrfarbigen, geometrischen Mustern bestimmt werden. Vor der offenen Haustür steht ein kleiner, drahtiger Mann und mustert die Vorübergehenden. Freddy Mamani heißt der 48-Jährige, der das Haus entworfen hat und für die spektakuläre Fassade verantwortlich ist. Kaminrot, Orange, etwas Lila und Beige prägen die Fassade, die von dunkel getönten Scheiben durchbrochen wird. Mit diesem klassischen Muster ist die Kultur der indigenen Ayamara verbunden.
Über der Eingangstür prangt der Schriftzug »Don Vico«. Mamani weist mit einem Kopfnicken den Weg ins Treppenhaus, das in leuchtenden, orangefarbenen Tönen gehalten ist. »Die Räume im Erdgeschoss werden als Ladenfläche zur Miete angeboten«, erklärt Mamani die Struktur des fünfstöckigen Gebäudes. »Der zweite und dritte Stock ist dem ›Salón de Eventos‹ vorbehalten, und ganz oben, in weiteren zwei Etagen, soll der Besitzer, ein Gastronom aus El Alto, mit seiner Familie wohnen. Das gilt für fast alle Cholets, die wir bauen.« Salón de Eventos heißen die Veranstaltungsflächen, in denen große Familienfeste und andere Veranstaltungen ausgerichtet werden, womit die Eigentümer Einnahmen erwirtschaften. Gastronomen, Besitzer von Unternehmen und kleinen Fabriken, aber auch Anwälte und Ärzte gehören zu Mamanis Auftraggebern. Sie zahlen zwischen 200 000 und 500 000 US-Dollar für ihr Traumhaus.
Brücke zur eigenen Kultur
Der Architekt leitet das Familienunternehmen, hat derzeit aber wenig zu tun. Mit kleinen Aufträgen, hier ein Anbau, dort eine Reparatur, hält er den Betrieb in Zeiten der Pandemie am Laufen. Er nutzt die Gelegenheit für neue Entwürfe, beschäftigt sich aber auch mit Kunst und Malerei. Mamani hat den neoandinen Architekturstil geprägt und damit international auf sich aufmerksam gemacht. Er ist zum Star unter den Architekten von El Alto geworden.
Geometrische Muster, intensive, leuchtende Farben und die kleinen, zackigen Dachgiebel, die sich in den blauen Himmel El Altos recken, sind Charakteristika seiner Entwürfe, die er ohne Computer fix auf Papierbögen bannt. »Für mich ist der Bezug zu meiner eigenen Kultur, zu traditionellen Mustern, Farben und Symbolen wichtig. Ich stelle auch eine Verbindung zu den Ruinen von Tiahuanaco her«, so der quirlige Mann. Tihuanaco, nur etwa 60 Kilometer von La Paz entfernt, ist eine der wichtigsten Ausgrabungsstätten der Präinkakulturen. Die indigenen Aymara gelten als ihre Nachfahren. Ihnen gehören Mamani, aber auch das Gros der Bewohner von El Alto und Ex-Präsident Evo Morales an.
2002 hat Mamani begonnen, sein erstes Cholet zu entwerfen, und dabei den Bezug zu seiner Kultur hergestellt. »Schon in den Universitätsseminaren habe ich mich gefragt: Wo ist unsere eigene Architektur? Wo tauchen wir denn auf?«, erzählt er und lässt die linke Hand nachdenklich über den dichten, pechschwarzen Haarschopf gleiten. Mamani hat sich damals auf die Suche nach dem Eigenen gemacht, erste Entwürfe gezeichnet und sie einem potenziellen Auftraggeber aus El Alto vorgelegt. Der war begeistert, und so ist der »Salón de Grand Palace« in der Aveninda Juan Pablo II., direkt gegenüber der Universität, entstanden. Er wurde zu einem ins Auge springenden Symbol der Stadt, dem Dutzende weitere folgten. Cholets werden sie genannt, ein Wortzwitter zwischen Chalet und Cholo, dem abwertenden Begriff für einen indigenen Menschen in der Andenregion. Das Wortspiel verdeutlicht, dass das auffällige Gebäude damals etwas ausgelöst hat: Ein negativ kanonierter Begriff wurde ins Positive gedreht - ein Akt der Abnabelung, der kollektiven Wiederentdeckung des Eigenen. Mamani war mit seinem Entwurf zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.
Das schlug sich in Aufträgen nieder. Mehr als 70 Cholets hat der gefragte Baumeister allein in El Alto in seinem neoandinen Stil errichtet - weitere 30 in Nachbarländern wie Peru oder Chile. »Das Herz der Cholets sind die Salons«, so Mamani. Da dominieren die intensiven, teil schrillen, teils poppigen Farben, die sich in den Mustern der Textilien wiederfinden, die zur traditionellen Kleidung der Aymara gehören. »Bei der Bevölkerung El Altos kommt das sehr gut an, bei etablierten Architekten weniger«, meint Mamani. Obwohl er bereits in New York, Paris und Buenos Aires ausgestellt hat, ist er in der Architektenkammer von La Paz nicht sonderlich gut gelitten.
Ein Fortschritt für die neoandine Architektur
Er träumt davon, einmal einen wirklich großen offiziellen Auftrag zu erhalten, zum Beispiel ein Bürogebäude, ein Museum oder ein Stadion zu bauen und dabei seine Ideen einzubringen. An Ideen herrscht kein Mangel, wie ein Blick in den opulenten Saal des Cholets »Don Vico« zeigt. Etwa acht bis neun Meter ist der hoch und von Spiegeln gesäumt, die zwischen orange-ocker und grün-gelb gehaltenen Dekorationselementen aufgehängt sind, die wiederkehrende geometrische Muster aufnehmen. Farben und Muster setzen sich in der Kassettendecke fort, die von Kronleuchtern dominiert wird, darunter prangen mehrere Wandgemälde des Künstlerkollegen Roberto Mamani, der aus El Alto stammt, aber im benachbarten La Paz sein Atelier hat. Im gekachelten Boden finden sich einschlägige Symbole wie das Kreuz des Südens, ein Sternbild, wieder. »Chakana« heißt es auf Aymara, erklärt der Architekt.
Mamani kennt seine Kunden sehr gut. »Cholets sind die Gebäude einer wohlhabenden Oberschicht der Aymara, die zeigen, was sie haben und wie es sich vermehren lässt«, erzählt er lächelnd. Dabei bleibt sich der Vater von vier Kindern treu und springt nicht auf den neuen Trend auf, der sich in El Alto in den vergangenen drei, vier Jahren breitgemacht hat. Ein neuer comic-affiner Baustil ist dort auf dem Vormarsch. »Transformer« wird er genannt, und gleich mehrere der schillernden Gebäude haben Schlagzeilen gemacht. Für Mamani kein Grund zur Sorge. Kollegen, die eine Märchenwelt im Stile Peter Pans architektonisch in Szene setzen, gehören genauso zu El Alto wie solche, die dem Hang des Bauherrn zu Comicsuperhelden in der Fassadengestaltung nachkommen. Dennoch grenzt sich Mamani davon ab: »Mit dem Bekenntnis zu einer eigenen Identität, zu der auch die indigene Frau mit Pollera, Manta und Bombín gehört, hat das wenig zu tun.« Indigene Frauen, die im prächtigen Faltenrock, der Pollera, mit Umhängetuch, Manta genannt, und dem keck auf den hochgesteckten Haaren sitzenden Borsalino, in Bolivien Bombín genannt, stolz in den Straßen unterwegs sind, aber auch im Parlament auftreten, gehören zu den Symbolen des Wandels in Bolivien.
Doch um ihren erkämpften gesellschaftlichen Status fürchten viele Menschen indigener Herkunft derzeit in Bolivien. »Die Menschen stehen einer Interimsregierung gegenüber, die weiß ist und repressiv auftritt«, kritisiert Mamani. Er sympathisiert mit der »Bewegung zum Sozialismus« von Evo Morales. Sie habe der indigenen Bevölkerungsmehrheit ein neues Selbstwertgefühl, mehr politische Rechte und mehr Teilhabe an politischen Entscheidungen gebracht, meint er. Ein Ausdruck davon sind die Cholets. Längst sind sie weit mehr als Orientierungspunkte, um sich in El Alto zurechtzufinden, einer Stadt, in der Hausnummern und Straßennamen sich erst langsam durchsetzen. Sie sind ein Stück in Giebel, Säle und Fassaden fixierte indigene Identität, ist sich Mamani sicher und lässt seinen Blick draußen vor der Tür über die »Perlenkette« der fünf prächtigen Cholets gleiten. Drei davon gehen auf seine Entwürfe zurück.
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