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Im Wendeschatten
Über 1000 Neonazis greifen geplant Linke und Migranten an. Forscher aus Jena belegen, dass die deutsche Vereinigung von pogromartigen Angriffen begleitet wurde.
In der Nacht der Einheit zogen sie zur besetzten Mühle am Rande der Stadt. Alle in Zerbst wussten vorab Bescheid. Man konnte es ja sogar in der Lokalpresse lesen. »Informiert ist die Volkspolizei, daß es in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober zu einem Zusammenstoß einer großen Anzahl rechtsgerichteter Jugendlicher aus Zerbst, Roßlau und Magdeburg mit linksgerichteten Jugendlichen aus Zerbst in der Kötschauer Mühle kommen soll«, hieß es in der Volksstimme. Mindestens 200 Neonazis zogen gegen 22 Uhr zur Zerbster Mühle. Jeder mit ein bisschen Erlebnisdurst war eingeladen, dort hinzukommen und ein paar Menschen abzufackeln. Doch auch die alternativen Jugendlichen hatten sich vorbereitet. Sie hatten sonst nicht viel, also verteidigten sie ihre Mühle. Im Dunkeln fliegen Steine und Molotow-Cocktails hinab auf die anstürmenden Gestalten.
Der Angriff von 200 Neonazis auf etwa ein Dutzend Jugendliche in der sachsen-anhaltinischen Kleinstadt Zerbst ist der brutalste von etlichen Übergriffen, die Forschende aus Jena zusammengetragen haben. Mit dem Online-Projekt »zweiteroktober90« dokumentieren Konstantin Behrends, Julian Kusebauch, Laura Peter und Thomas Wicher neonazistische Angriffe, die direkt vor oder am Tag der Vereinigung der beiden deutschen Staaten stattgefunden haben. »Die Gewalt zum Tag der Einheit lässt sich einordnen als ein - bisher kaum beachteter - vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung, die sich in den Pogromen von 1991 und 1992 vollends entfesselte«, meint Behrends gegenüber »nd«.
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In über 40 deutschen Städten kam es der Recherche nach zu neonazistischen Angriffen und Ausschreitungen. Sie richteten sich gegen Linke und Migrant*innen. Über 1000 Neonazis waren daran beteiligt. Während ein Großteil der Gesellschaft die Einheit feierte, kämpften die Andersaussehenden, Andersdenkenden und Alleingelassenen um ihre Häuser - und mancherorts um ihr Leben.
Diese pogromartigen Ausschreitungen blieben im Rausch der Einheit damals gesellschaftlich und medial weitgehend unbeachtet. Bis heute sind sie kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert, meinen die vier Wissenschaftler*innen aus Jena. Dabei könne die Beschäftigung mit diesen Angriffen dabei helfen, die Entwicklung der neonazistischen Gewalt in den 1990er Jahren besser zu verstehen.
Für die Dokumentation, die »nd« exklusiv vorab vorliegt, haben die Forschenden in verschiedenen Archiven Zeitungsartikel zusammengetragen und mehrere Zeitzeugen befragt. Eine schwierige Suche. Vielerorts wurde, anders als bei den folgenden Pogromen in Rostock-Lichtenhagen, kaum über die Ausschreitungen berichtet, und wenn, dann wurden die Angriffe oft als Zusammenstöße zwischen Extremisten oder Jugendbanden beschrieben. Dabei hinterließen die Nazis eine Spur der Verwüstung. Auch in Zerbst, bei dem wohl größten Angriff in jener Nacht, blieb am Ende der Schlacht nur eine Ruine.
Irgendwann gelang es den Angreifern, dort Feuer zu legen. Während die Siegesfeier der einen begann, sie sich an den Flammen ergötzten, wurde es für die anderen immer ernster. Mit Möbelstücken, alten Türen und Matratzen hatten sie das Gebäude verbarrikadiert. Nun wurden diese zu Brandbeschleunigern. Die Jugendlichen kletterten aufs Dach, setzten sich auf den Giebel. Zigaretten wurden herumgereicht und Rasierklingen, so erzählt es einer, der damals dabei war. Um ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen.
Während des gesamten Angriffes in Zerbst saßen zwei Polizisten in unmittelbarer Nähe der Mühle. Schon vorher hatten die Beamten angekündigt, von den Ausschreitungen zu wissen. »Das Zerbster Volkspolizei-Kreisamt sieht sich auf Grund seiner zur Verfügung stehenden Kräfte jedoch außerstande, dort einzugreifen«, hieß es noch am Morgen in der »Volksstimme«.
So war es vielerorts: Die Behörden waren über die Angriffe informiert, gaben aber zumeist zu verstehen, dass sie nicht einschreiten können oder werden. In Berlin wurde eine PDS-Kundgebung abgesagt, da »die Partei durch das Innenministerium und Berliner Behörden gewarnt worden sei, dass die Sicherheit nicht gewährleistet werden könne«. In Jena rieten die Behörden den Hausbesetzer*innen, ihr Haus aufzugeben, da sie den Schutz nicht gewährleisten könnten.
Woher kam die Gewalt an jenem Tag der Einheit, am 3. Oktober 1990? Die Ausschreitungen haben ein Davor und ein Danach. Neonazis gab es in der DDR schon immer, genauso wie in Westdeutschland. Doch mit dem Ende der DDR veränderte sich vieles. Ein wichtiges Ereignis waren wahrscheinlich die Amnestien für viele DDR-Häftlinge im Dezember 1989. Sie spülten eine Vielzahl von »Rowdys« auf die Straße, so verharmloste die DDR ihre Nazis. Auf den Montagsdemonstrationen waren nun häufiger Reichskriegsflaggen zu sehen. Die Volkspolizei griff kaum ein. Die Übergangszeit von der einen Ordnung in die andere war auch eine, in der die staatliche Macht nicht fest im Sattel saß. Der Sommer 1990 war der Sommer der Anarchie. Vielleicht im Guten wie im Schlechten. Dazu kam: Einige ostdeutsche Nazis waren schon länger im Westen. Die BRD hatte viele der vermeintlichen Dissidenten freigekauft oder ihre Ausreisen forciert. Nach dem Mauerfall kamen sie zurück in den Osten.
Warum beschäftigen sich heute noch Menschen mit diesen Ausschreitungen und arbeiten sie so detailliert auf, wie es die Forschenden aus Jena getan haben - 30 Jahre später? Den Pogromen gegenüber stehen die Errungenschaften der Wende. Man muss auch sie benennen. Doch niemand sollte einzig die positiven Seiten der historischen Erzählung betrachten.
Die rassistischen Gewaltexzesse nach der Wiedervereinigung wirken bis heute fort, meint der Rechtsextremismusforscher David Begrich. Die Erfahrung etwa, dass es möglich war, die Unterbringung von Asylsuchenden zumindest zeitweise zu verhindern, speist die heutigen Proteste gegen die Ansiedlung von Geflüchteten. Prägend war zudem die Erfahrung, dass Sanktionen von Staat und Gesellschaft gegen die entgrenzte Gewalt auf sich warten ließen oder ganz ausblieben.
Auch in Zerbst gab es nach der Brandnacht keine Strafen für die Angreifer. Obwohl dort 1990 beinahe 17 Menschen umgekommen wären - weitgehend unbeachtet von der deutsch-deutschen Öffentlichkeit.
Als die Flammen immer höher züngelten, es auf dem Giebel der Mühle immer heißer wurde, rückte in letzter Minute dann doch noch die Feuerwehr an. Wie spät es da genau war, daran erinnert sich keiner von denen, die dabei waren. Wahrscheinlich war es wenige Minuten vor der deutschen Einheit, als die Feuerwehr ein Sprungpolster aufbaute. Es war für einen Sprung aus fünf Metern ausgelegt. Die Jugendlichen sprangen aus 18 Metern von dem Dach der Kötschauer Mühle in die Dunkelheit. Sie wurden gerettet.
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