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Wo sich Ost und West unterhaken
Ein Heimkehrer in der sächsischen Provinz lässt die innere Einheit als »Graswurzelprojekt« wachsen.
Als Gut Gödelitz als winziger Punkt auf der politischen Landkarte der größer gewordenen Bundesrepublik auftauchte, war die noch in einem »fatalen Dreieck« gefangen. Wenn es um die DDR ging, sagt Axel Schmidt-Gödelitz, kreiste die Debatte um drei Begriffe: Stasi, Diktatur, Unrechtsstaat. So konnte das nichts werden mit der inneren Einheit. Viele Ostdeutsche, sah er 1994, fühlten sich in dem neuen Land enttäuscht und gedemütigt; viele Westdeutsche waren irritiert, weil sie statt Gram eher Dankbarkeit erwartet hatten und »mit den Ossis nicht zurechtkamen«. Die viel beschworene »innere Einheit« würde so nicht entstehen, sagte Schmidt-Gödelitz - und beschloss, sie von unten wachsen zu lassen wie Gras am Wegesrand.
»Unten« heißt in dem Fall: weit draußen, in Gödelitz. Ein paar Häuser inmitten weiter Felder in der Lommatzscher Pflege; ein ehemaliger Gutshof, den der Bauer Max Schmidt 1906 gepachtet, dann gekauft und zum Musterbetrieb ausgebaut hatte, dessen Schafböcke das Vielfache eines Autos kosteten. Obwohl es kaum eine Stunde Fahrtzeit bis Dresden ist, fühlt man sich weit ab vom Schuss. Hier treffen sich für ein langes Wochenende in Stille und Abgeschiedenheit jeweils zehn Menschen, um sich ihr Leben zu erzählen. Sie sind unterschiedlich alt, haben verschiedene Berufe und politische Haltungen; in jedem Fall aber sind es fünf Ost- und fünf Westdeutsche. Das Ziel: Wenn sie sich am Sonntag vor der Tür des Gutshauses verabschieden, soll die innere Einheit ein Stück gewachsen sein.
Die Regeln, die dafür etabliert wurden, sind strikt. Das »Gödelitzer Arbeits-Du« sorgt für Augenhöhe, die vereinbarte strikte Vertraulichkeit für die nötige Offenheit. Wichtiger: Ganz gleich, was eine oder einer erzählt, was er oder sie im Leben gemacht hat, wie unterschiedlich die Weltsichten sind - es seien »keine Kritik und keine Bewertung« zulässig, sagt Schmidt-Gödelitz. Ziel sei ein »Perspektivwechsel«, das Einfühlen in Motive, Antriebe, Hoffnungen, Zwänge anderer. Die Teilnehmer, sagt Schmidt-Gödelitz, sollten sich »gedanklich unterhaken«.
Schmidt-Gödelitz hat diesen Ansatz bei Egon Bahr gelernt, einem seiner politischen Ziehväter und Architekt der Ostpolitik von SPD-Bundeskanzler Willy Brandt. Bahr sei mit dem Vorsatz eines »Perspektivwechsels« auch zu politischen Verhandlungen nach Moskau gereist; er habe postuliert, wer diesen nicht vollziehen könne, sei »nicht friedensfähig«. Der 1942 geborene Schmidt-Gödelitz, der nach dem Studium von Politologie und Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin unter anderem in der von Günter Gaus geführten Ständigen Vertretung der BRD in Ostberlin und später bei der Friedrich-Ebert-Stiftung tätig war, hoffte, dass der im Kalten Krieg bewährte Grundsatz auch helfen könnte, die nach dessen Ende unerwartet fortbestehenden Mauern zwischen Ost- und Westdeutschen abzubauen.
Vermutlich hat das Prinzip ihm auch selbst geholfen, einen großen Gram zu verwinden: den zeitweiligen Verlust von Gödelitz. Das von seinem Vorfahren Max Schmidt begründete Gut wurde 1946 im Zuge der Bodenreform enteignet; die Familie ging nach Baden-Württemberg. Der Name des verlorenen Hofes wurde fortan Teil des Familiennamens, quasi als Zeichen der Hoffnung, die indes vorerst uneingelöst blieb. Erst mit dem Umbruch 1989 ergab sich die Gelegenheit zur Rückkehr. Der umstrittene Grundsatz »Rückgabe vor Entschädigung« galt für Bodenreformland nicht; Schmidt-Gödelitz konnte das Gut aber kaufen. Die Erfahrungen, die er dabei mit herablassenden West-Beamten in Behörden wie der Treuhand machte, ließen ihn das Gefühl der Demütigung bei vielen Ostdeutschen sehr gut nachvollziehen.
Heute wird um den Gutshof Gödelitz wieder geackert; eine Schafherde begrüßt Besucher. Wichtiger als Rüben und Roggen sind dem Nachfahren von Max Schmidt aber andere Pflänzchen: Einheit, Demokratie, der soziale Rechtsstaat. Seit einem guten Vierteljahrhundert gibt es mittlerweile die ost-westdeutschen »Biografiegespräche«. Bisher hätten rund 3000 Menschen teilgenommen, ist in einem demnächst erscheinenden Aufsatz zu lesen, der auch Fragen stellt: War der Aufwand berechtigt? Wie lange noch? Und welche Verbreitung erfährt die in Gödelitz eingeübte Toleranz in der Gesellschaft?
Schmidt-Gödelitz hält die Methode für bewährt, wenn es darum gehe, »solidarisches Denken und solidarische Strukturen zu fördern«. Auch wenn 3000 Menschen auf das gesamte Land betrachtet nicht viele sind, trügen sie den Grundgedanken doch weiter und verbreiteten ihn, eben wie Wurzeln von Gras, die sich ausbreiten. Schmidt-Gödelitz räumt ein, dass sich zu den Dialogwochenenden vor allem Menschen meldeten, die ohnehin eine »Grundhaltung der Offenheit« auszeichne. Auch wäre es wünschenswerter gewesen, derlei Gesprächsforen hätten »gleich von Anfang an flächendeckend etabliert« werden können. Die Gödelitzer Möglichkeiten hätte das freilich weit überstiegen.
Dennoch ist Schmidt-Gödelitz 30 Jahre nach dem Herbst 1989 mit Blick auf das Verhältnis zwischen Ost und West optimistisch. Gespräche kreisten nicht mehr um das »fatale Dreieck«; stattdessen beobachtet er ein größeres ostdeutsches Selbstbewusstsein, einen »differenzierten Blick auf das alltägliche Leben« in der DDR und wachsende Neugier bei Jüngeren. Das Anliegen der Biografiegespräche schien erfüllt zu sein; er dachte darüber nach, sie einzustellen. Das aber stieß auf Bedauern bei vielen, die teilgenommen hatten. Also treffen sich weiterhin ein paarmal im Jahr je fünf Ost- und fünf Westdeutsche in Gödelitz, um sich »unterzuhaken«.
Schmidt-Gödelitz treiben derweil zunehmend Sorgen um, die nicht um Ost und West kreisen: über die »braune Soße, die weltweit aus den Gullys drängt«; das Ideal des sozialen, demokratischen Rechtsstaates, das der Neoliberalismus »systematisch ramponiert« habe; das »Friedensprojekt Europa«, das gefährdet sei. Er versucht gegenzuhalten, etwa mit einer »Werteakademie« für junge Menschen. In Gödelitz wolle man »Visionen vermitteln in einer Zeit ohne Visionen« - auf dass sie sprießen mögen wie Gras am Wegesrand.
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