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Ein großes Missverständnis
Nach drei Jahrzehnten wird der Osten allmählich als erwachsen betrachtet
Bis ein Mensch volljährig ist, und damit voll geschäftsfähig und wahlberechtigt, dauert es in Deutschland 18 Jahre. Bei Staaten sieht das etwas anders aus. Der Osten Deutschlands, der in Gestalt der neuen Bundesländer 1990 von der Bundesrepublik adoptiert wurde, brauchte geschlagene 30 Jahre, um in Erwachsenendingen ernsthaft mitreden zu dürfen. Gewiss, es gab den aus dem Osten stammenden Bundespräsidenten Joachim Gauck, was allerdings vor allem einer parteitaktischen Laune von FDP und Grünen entsprang. Und es gibt die aus dem Osten stammende Langzeitkanzlerin Angela Merkel, die jedoch wie Gauck nicht den Regelfall repräsentiert, sondern die Ausnahme von der Regel.
Die grundlegenden Dinge der Verfasstheit dieses seit 1990 vereinigten Landes wurden in den letzten 30 Jahren von und unter Westdeutschen geklärt: Im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe saßen bis zum Juli 2020 ausschließlich Juristen, die aus dem Westen stammen. Seit gut zwei Monaten gehört Ines Härtel dazu, geboren und aufgewachsen im sachsen-anhaltischen Staßfurt, zuletzt Professorin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Sie ist nun die erste Ostdeutsche unter den Verfassungsrichterinnen und -richtern. Das erzählt einiges darüber, wie in Deutschland Macht und Einfluss verteilt sind.
Verlängerter Westen
Die Frage, ob und wie der Osten in Karlsruhe vertreten ist, hatte im Sommer eine peinliche Debatte ausgelöst. Denn anders als peinlich kann man es kaum bezeichnen, wenn drei Jahrzehnte nach der Vereinigung zweier Staaten, wie auch immer sie gelaufen ist, darüber geredet werden muss, ob die beigetretene Seite nun endlich wenigstens einen Platz am Tisch der Erwachsenen bekommt. Selbst wenn man von allen SED-konformen, irgendwie belasteten oder aus anderen Gründen nicht verwendbaren Juristen aus dem Osten absieht - es soll wirklich 30 Jahre lang keine einzige Person aus dem Beitrittsgebiet gegeben haben, die würdig und und in der Lage gewesen wäre, in Karlsruhe Verfassungsrecht zu sprechen? Nein, dafür gibt es nur einen einzigen Grund: politischen Unwillen.
Immerhin passt die jahrzehntelange Bewährungszeit durchaus dazu, dass der vereinigte Staat damals keine neue Verfassung bekam, sondern das Grundgesetz des Westens für alle übernahm. Nicht weil es keine anderen Vorschläge gegeben hätte; sogar ein Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder hatte sich gegründet. Sondern weil der Westen es einfach nicht für nötig hielt. Bestärkt noch durch den 1990 wachsenden Willen vieler Ostdeutscher, gar nichts gemeinsames Neues zu wollen, sondern hineinzudrängen in genau diesen Westen, so wie er war. Oder besser: wie sie ihn sich vorstellten.
So wurde aus dem Osten ein verlängerter Westen. »Wir sind das Volk!«, hatten sie gerufen. Das hatte sich die Elite im Westen gut gemerkt und gab dem Volk harte Währung, Reisefreiheit und ABM-Stellen. Macht und Einfluss gehörten nicht dazu; danach hatte das Volk nicht gerufen. Oder war das nur ein Missverständnis; eines der vielen absichtsvollen und unbeabsichtigten beim deutsch-deutschen Zusammenwachsen?
»Ich hab jetzt endlich ’ne richtige Arbeit und du jemand, der sie dir macht«, beschrieb der Lausitzer Liedermacher Gerhard Gundermann in einem Song sarkastisch die neuen Ost-West-Verhältnisse. Gundermann selbst war so einer, der in kein Raster passte. Sozialist und Meckerkopp schon zu DDR-Zeiten, Stasi-Zuträger und Stasi-Opfer, Braunkohlekumpel und Umweltschützer, Arbeiter und Künstler. Schwer zu fassen. Vor Jahren bezeichnete ein Journalist im Bemühen, seinem westdeutschen Publikum eine Vorstellung zu vermitteln, Gundermann als »den Gunter Gabriel des Ostens«. Auch hier: Was für ein grandioses Missverständnis! Gabriel posierte als Kumpel und wollte vom Boss mehr Geld; Gundermann war tatsächlich Kumpel und zerbrach sich den Kopf nicht über das Geld, sondern über seine Arbeit. Dazwischen liegt eine ganze Welt. Und inzwischen auch eine Erfahrungswelt jener vielen in Ost und West, denen das Selbstbewusstsein dauerhaft verwehrt blieb, das aus einem erfüllenden und auskömmlichen Arbeitsleben erwachsen kann.
Dieses Vergleichen, dieses Messen des Ostens am Westen, dieses Einpassen in westliche Raster auf Teufel komm raus - das war lange Zeit ein geistloser medialer Volkssport. Gojko Mitić - der Pierre Brice des Ostens. Winfried Glatzeder - der Belmondo des Ostens. Günter Rössler - der Helmut Newton des Ostens. Andreas Schmidt-Schaller - der Schimanski des Ostens. Wolfgang Lippert - der Thomas Gottschalk des Ostens. Was dabei dabei hängen bleibt: Der Osten ist im Grunde nicht mehr als ein Abziehbild des Westens. Nur bei Sigmund Jähn hat es nicht funktioniert, weil der Westen blöderweise noch keine Astronauten hatte, als Jähn ins Weltall flog.
Ossi-Quote im Osten?
Der Osten ist, wenn deutsche Politiker von Deutschland reden, oft mitgemeint. Das Ostdeutsche hatte es schwer, im Gesamtdeutschen gleichberechtigt anzukommen. Wenn es doch erwähnt wird, dann oft wie etwas Exotisches: Gundermann, der ostdeutsche Liedermacher. Dresen, der ostdeutsche Regisseur. Neulich untersuchten Sozialwissenschaftler, ob sich die Haltungen zu Flüchtlingen bei der Bevölkerung seit 2015 geändert haben, wenn Migranten in Städten und Gemeinden untergebracht wurden. Unter die Lupe wurden ausschließlich Kommunen im Osten genommen, obwohl es Rassismus, Anfeindungen gegen Schutzsuchende bis hin zu Angriffen und Brandstiftungen in allen Bundesländern gab und gibt und Ergebnisse im Westen dazu ebenso von Interesse wären.
Ganz unbestritten hat der Osten Deutschlands noch immer seine Besonderheiten, im Positiven wie im Negativen. Es gibt mehr als genug statistische Kriterien, die - auf eine Deutschlandkarte übertragen - die Umrisse der DDR deutlich hervortreten lassen: Arbeitslosigkeit, Beschäftigungsanteil von Frauen, Wahl der Linkspartei, Vermögensverhältnisse, Versorgung mit Kita-Plätzen, Einkommensniveau, Abhängigkeit von Hartz-IV-Leistungen, Höhe der Rente, Wahl der AfD, Anteil der Mini-Jobber …
Und eben die Verteilung von Spitzenposten. Nicht nur im Bundesverfassungsgericht sind die Ostdeutschen in krasser Minderheit, auch in anderen juristischen Institutionen. Vor drei Jahren ergab eine Zählung, dass nur drei von 457 Richterinnen und Richtern an Bundesgerichten ostdeutsche Wurzeln hatten. Drei von über 450. Im Osten selbst sieht es nicht sehr viel besser aus. Nur gut 13 Prozent der in den neuen Bundesländern tätigen Richter waren im Jahr 2017 ostdeutscher Herkunft, ein Drittel der Manager in großen Unternehmen, jeder siebente Universitäts-Rektor, ein Viertel der Chefs in den Medien. In diesem Sommer erst wurde in Cottbus die erste ostdeutsche Uni-Präsidentin gewählt.
Brauchen die Ossis im Osten also eine Quote? Es ist keineswegs egal, wer wo das Sagen hat. Solange es deutlich unterschiedliche Erfahrungen, Sozialisationen, Herkünfte gibt, wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass diese nicht nur geduldet, sondern auch berücksichtigt werden. Warum klingt die Vorstellung immer noch wie ein Witz, ein Ostdeutscher könnte Ministerpräsident in Düsseldorf, Kiel oder Stuttgart werden, während umgekehrt Westdeutsche wie naturgegeben Regierungschefs in Schwerin und Dresden, Erfurt und Magdeburg wurden?
Zweierlei Nostalgie
Es genügt nicht, wenn der Osten nur mitgemeint ist. Es genügt auch nicht, ihn zu alimentieren. In Helmut Kohls Verheißung »Keinem wird es schlechter, aber vielen wird es besser gehen« schwang immer mit: Wir sorgen schon dafür. Noch so ein Missverständnis: Die Ostdeutschen wollten kein Versorgungsfall werden. Tatsächlich durften sie dazukommen, sollten aber nicht stören. Wer sich zu seinen sozialen und kulturellen Wurzeln in der DDR bekennt, lief und läuft immer noch Gefahr, der Nostalgie bezichtigt zu werden. Da verändert sich allmählich etwas; der Blick auf den Osten wird differenzierter, auch wegen Filmen wie »Gundermann«. Westnostalgie hingegen wird gnaden- und bedenkenlos zelebriert, wie eine Staatsreligion, ohne dass irgendjemand etwas dabei findet.
Dieser Tage wurde bekannt, dass Jens Riewa demnächst Chefsprecher der ARD-»Tagesschau« wird. Riewa, 57 Jahre alt, wuchs im Spreewald auf. Er ist der erste Ostdeutsche auf dem prestigeträchtigen Posten, den er ungefähr zehn Jahre innehaben könnte. Wenn er in den Ruhestand geht, spielen solche Herkunftsfragen vielleicht keine große Rolle mehr.
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