- Kultur
- Autonome Republik Ladanien
Der kurze Herbst der Anarchie
Bei der Einheitsfeierei vergessen: Hoyerswerda trat nicht bei - und gründete eine eigene Republik
Ich bin jetzt länger Staatsoberhaupt als Helmut Kohl, Angela Merkel oder sogar Lukaschenko es je gewesen sind - seit dem 3. Oktober 1990, als wir unter dem Motto »Wir treten nicht bei« die Autonome Republik Ladanien gründeten. Und zwar im »Laden«. Inmitten der Plattenbauten von Hoyerswerda, Typ WK VE - WK für Wohnkomplex. Ein Betonwürfel, standardisiert wie alle Neubauklubs der DDR. Aus dem legendären »Feuersteins Musikpodium« (FMP) war hier eine kleine alternative Kulturszene entstanden, die der Gründerfigur Gundermann stets verbunden blieb, künstlerisch aber in eine etwas andere Richtung ging. Im Gegensatz zu ähnlichen Szenen in großen Städten wie Berlin, Leipzig oder Dresden sammelten sich hier aber keine Intellektuellen oder gar Aussteiger, sondern eine Art proletarische Bohème. Avantgarde nach Feierabend.
2. Oktober 1990. Der »Laden« steht direkt neben meinem alten Schulhof, dessen Zaun jetzt zur Staatsgrenze wird. Wimpelketten markieren das Territorium, Schilder weisen darauf hin, dass man das Staatsgebiet der DDR verlässt. An zwei Grenzübergangsstellen sind Auffanglager aus Zelten der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) eingerichtet, an denen sich lange Schlangen von Ausreisewilligen bilden. Sie bekommen Ausweisdokumente und tauschen D-Mark - die Ostmark hatten wir im Juli in einer denkwürdigen Zeremonie begraben - in Lada, die ladanische Währung.
»GröKaZ und Chicken Adler - nein danke, das geht uns zu schnell mit dem Beigetreten-Werden. Wir brauchen mehr Zeit zur Besinnung, zur Vergangenheitsbewältigung und zum Optimusmus-Sammeln«, eröffnet Klubchef und Wahlleiter Uwe Proksch die Staatsgründung. Diese ist mit »TOP 1: Ausrufen der Republik« schnell vollzogen, indem alle im Chor »Republik« rufen. Die Staatsflagge mit dem Notausgangspfeil und dem stilisierten Windspiel - Kennzeichen des »Ladens« - wird gehisst und die Nationalhymne angestimmt. Bis auf eine rotstichig-verpixelte VHS und eine verschrammelte alte Audiokassette gibt es keine Aufzeichnungen dieses historischen Moments. Dennoch übermittelt sich die Energie der Verzweiflung, wenn man heute den kraftvollen Chor aller Ladanier beim Singen ihrer Hymne hört. »Weise: Tom Waits« ist auf den kopierten Zetteln mit dem Text angegeben. Zu »In the Neighborhood« ertönt da eine in ihrer ganzen Beklopptheit doch erstaunlich authentische Beschreibung der Welt, in der wir nach einem kurzen Aufblitzen der 89er Utopie gelandet sind, und des Fatalismus, der uns angesichts deren neuerlichen Scheiterns befallen hat:
»die mülltonne leuchtet / langnese steht stramm / gin tonic hat Urlaub / das video läuft / die kids kiffen heimlich / an der hintertür / und das telefon jammert / doch keiner geht ran / in ladanien ...«
Das Volk darf über Verfassung und Staatsform abstimmen. Wortreich bewerben sich Vertreter der Monarchie, der Militärdiktatur, der Werner-Partei, der Diktatur des Proletariats und des Dadaismus. Trotz wiederholter Nachfrage des Wahlleiters findet sich niemand, der für die Staatsform Demokratie antreten möchte. Wie im Jahr 1990 üblich, bewerben sich ausschließlich Männer um das hohe Amt des Staatsoberhaupts. Aber auch die ladanische Bevölkerung ist zur Hälfte weiblich. Fast könnte man glauben, auch in echt könnten sich die Verhältnisse so einfach ändern wie am 3. Oktober 1990, als ich »Ministerpräservative«, abgekürzt Miniprä, von Ladanien werde. Es reicht, auf die Bühne zu springen, das Matriarchat zu verkünden, öffentlich einen Topflappen zu verbrennen und in den brechend vollen Saal (Einwohnerdichte: 7,6 Bewohner pro Quadratmeter) zu rufen: »Ladaniens Emanzen, wo seid ihr?« Schon ist das entfesselte weibliche Wahlvolk auf Stühle und Tische gesprungen und »LE«-Rufe erfüllen den Raum. Die Frauen des Ladens sind bekannt dafür, dass sie sich nehmen, wonach ihnen verlangt. Jetzt ist es die Macht. Wir teilen sie im Bündnis mit dem Vertreter von UnoS/United Nations of Sorbien - und so ist die Wahlkampfhymne, in deren Rhythmus wir stampfen, das sorbische »Gaž muzika zagrajo«. Frauen und andere Minderheiten ...
Die ordentliche Wahl nach Wohnbezirken geht im sich anschließenden Tumult etwas unter. Das Volk beruhigt sich erst beim Wettbewerb um den schönsten Misstrauensantrag, bei der Ehrung der Opfer der Wiedervereinnahmung - es bewirbt sich ein Vertreter der Dinosaurier -, der Akkreditierung des Botschafters der bundesproblematischen Republik und dem Aufbau des LSD/Ladanischer Sicherheitsdienst. Dazwischen werden die Top 10 der Arbeiterkampflieder vorgestellt, jeweils mit vorangestellten Textzitaten, die - 30 Jahre später gehört - den erlittenen Utopieverlust spürbar machen: »Um uns selber müssen wir uns selber kümmern und heraus gegen uns, wer sich traut.« oder »Vorwärts und nicht vergessen, worin unsre Stärke besteht.« Unbeirrt davon schmettern die sangesfreudigen Ladanier alle Refrains und lassen sich mitunter nicht davon abbringen, das gesamte Lied zu absolvieren, bis schließlich das ladanische Nationalballett in blauen Mao-Anzügen das Gehörte grazil und zackig vertanzt.
Mit dem Sitzstreik an der Mülldeponie beginnt der ladanische Alltag, der da heißt: Ein Jahr in 24 Stunden. Ostern, Frauentag mit Austreibung des Paragraphen 218, Subbotnik in der Grünrabatte, 1. Mai-Demonsration - an der alle Ladanier, geordnet nach Getränkegruppen, teilnehmen müssen -, Tom-Waits-Gedenkstunde, Fasching, Warnstreik der ladanischen Beschäftigten, Kindertag und Weihnachten - sowie der seinerzeit noch lebendige »Günter Graus« mit einer Sendung zum Thema »War der Weihnachtsmann IM?«. Bevor wir den Grenzzaun wieder einrollen, spielt eine englische Punkband zu Silvester auf, und die Ladanier der letzten Stunde werden geehrt.
Im Gegensatz zu den zwei anderen alternativen Republikgründungen auf dem Gebiet der Noch-DDR - die Bunte Republik Neustadt in Dresden schon im Juli 1990 und die Unabhängige Republik Utopia in Ost-Berlin - hatte Ladanien wenn überhaupt nur eine einzige politische Agenda: Anarchie. Entsprechend heißt der Film, in dem wir auf VHS unsere Republik verewigten, »Anarchophobia«. Darin verlässt Familie Bergmann (Ingmar, Ingolf und Inge) ein Land, in dem sie nach Ausbruch des »gelben Fleckenfiebers« (wir erinnern uns an die Tchibo-Werbung: »Oh, diese Bohnen!«) nicht mehr leben will, und flieht mit Hilfe eines Bananen essenden Grenzbeamten nach Ladanien. Im Film muss das ladanische Volk elendig untergehen, weil es - abgeschnitten von der Außenwelt - schlichtweg dem Hungertod preisgegeben ist. Nachdem alles, was nicht niet- und nagelfest war, abgebaut, geklaut und verhökert wurde, begibt es sich in den eisigen Untergrund und verschwindet in einer dramatischen Schlussszene, hübsch einer nach dem anderen, in einer Langnese-Eistruhe. Dort harrt es besserer Zeiten.
»es kichert der grabstein / ein scheinwerfer platzt / der kühlschrank schreit DADA! / das windspiel bricht ab / der babygrill läuft / auf 210 / und der postbote röchelt / der supermarkt brennt / in ladanien ...«
Mit dem Pogrom 1991 und daran anschließenden Verfolgungsjagden auf alles, was »links« verortet wird, endet in Hoyerswerda auch die Ära einer erstaunlichen Alternativkultur. Der Schließung fast sämtlicher Betriebe der Region folgt der Exodus einer ganzen Generation und Rückbau der halben Stadt, dem schließlich auch der Laden zum Opfer fällt. Es braucht Jahre, bis sich wieder eine Kulturszene etabliert hat. Aber es gibt sie, denn noch immer gilt: Ladanier aller Länder, vereinigt euch!
Die ganze Geschichte erzählt die Autorin in einem Buch, das 2021 im Suhrkamp Verlag erscheint.
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