Versuch es mit dem Leben

In Japan ist die Zahl von Suiziden unter Jugendlichen erschreckend hoch. Sozialpsychologische Vereine stemmen sich dem entgegen

  • Felix Lill
  • Lesedauer: 8 Min.

Als Sei Ashina Mitte September tot in ihrer Wohnung aufgefunden wurde, dürfte es vielen Journalisten sofort gegraut haben. Da war einerseits das Bedauern um die 36-jährige Schauspielerin, die der japanischen Öffentlichkeit über die letzten Jahre durch mehrere Filme und TV-Serien vertraut geworden war. Andererseits stellte sich die Frage, wie man über das Thema berichten sollte. Denn die Agentur von Ashina ging schnell davon aus, dass sich das einstige Model das Leben genommen hatte.

In Japan scheinen sich derzeit die Fälle von Prominenten zu häufen, die sich das Leben nehmen. Mitte Juli wurde der Tod des erst 31-jährigen Schauspielers und Sängers Haruma Miura vermeldet. Im Mai hatte sich die Profiwrestlerin Hana Kimura das Leben genommen, nachdem sie als Teilnehmerin einer Reality-TV-Serie über soziale Medien gemobbt worden war. Mittlerweile hat die Polizei auch bestätigt, dass Sei Ashina durch Suizid starb. Und bei diesen drei bekannten Tragödien innerhalb kurzer Zeit fragt man sich im Land: Handelt es sich schon um einen Werther-Effekt, in dem ein prominenter Freitod zu immer noch weiteren Selbstmorden führt? Der Begriff geht auf die »Leiden des jungen Werther« zurück. In dem Briefroman, nach dessen Veröffentlichung 1774 besagter Effekt beobachtet wurde, lässt Goethe den Helden sich wegen seiner unglücklichen Liebe erschießen.

Hilfe bei Suizidgefahr

Wenn Sie selbst traurige Gedanken haben oder vielleicht sogar an Suizid denken, versuchen Sie, mit anderen darüber zu sprechen. Das können Freund*innen oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie sich melden können.

Die Telefonseelsorge bietet rund um die Uhr und kostenfrei Beratung bei Sorgen und Krisen: 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222 oder 116 123. Wenn Sie lieber schreiben als sprechen wollen: Unter www.telefonseelsorge.de können Sie auch mit einem oder einer Seelsorger*in chatten.

In Japan schlägt man sich mit dem Thema Suizid ebenfalls schon länger herum. Weltweit hat das Land seit Jahren einen Ruf als Ort häufiger Freitode, was nicht nur belegtes Ergebnis internationaler Vergleichsstudien ist. Anders als in christlich und islamisch geprägten Ländern ist Selbstmord in der japanischen Geistesgeschichte keine Sünde, sondern wurde traditionell eher als ein Übernehmen von Verantwortung oder eine Bitte um Vergebung verstanden. Bekannt ist auch der Mythos der Samurai, die sich in ausweglosen Situationen aus Ehrgefühl das Leben nahmen, oder die Geschichte der »Kamikaze« genannten Todespiloten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs.

Einer der berühmtesten Schriftsteller Japans, Yukio Mishima, nahm sich 1970 öffentlichkeitswirksam das Leben. Seitdem gab und gibt es im Land viele Nachahmer. Laut der Weltgesundheitsorganisation liegt Japans Selbstmordrate 60 Prozent über dem weltweiten Durchschnitt. Heute, da sind sich viele Beobachter der japanischen Gesellschaft einig, gibt es hier eine Kultur des Ausnutzens von Machtpositionen und des Gruppenzwangs - und des Suizids als vergleichsweise typischer Folge davon. Durch internationale Medien geistern Storys über einen »Selbstmordwald« am Rande Tokios, wohin einige Menschen gehen, um sich an einem der Bäume aufzuhängen.

Dabei könnte man vermuten, das Land bekomme das Problem allmählich in den Griff. Nachdem die Selbstmordrate in den 90er-Jahren inmitten einer schweren ökonomischen Krise kräftig angestiegen war, fallen die Werte im Bevölkerungsdurchschnitt mittlerweile. Besonders deutlich ist dieser Rückgang seit 2012 zu verzeichnen, als die Regierung das Thema als soziales Problem anerkannte, vermehrt Sorgentelefone einrichtete und den mentalen Zustand von Angestellten in Betrieben überwachen ließ. Mit Erfolg: 2016 zählte Japan noch 21 897 Selbstmorde. Dies markierte das siebte Jahr in Folge mit fallenden Werten und nur noch gut zwei Drittel des Höchstwerts von 34 427 im Jahr 2003.

Doch fragt man Jiro Ito, gibt es aber dennoch keinen Grund zur Entwarnung. Vor vier Jahren gründete der ausgebildete Sozialpsychologe in Tokio die Nichtregierungsorganisation Ova, was auf Lateinisch der Plural von Ei ist und die Zerbrechlichkeit der Menschen andeutet. Mit Ova will Ito auf Selbstmorde junger Menschen aufmerksam machen. Denn deren Anteil fiel über die letzten Jahre entgegen dem Trend nicht. Er stieg an. Die kürzlichen Tode der Prominenten drohen nun, dass dieses Problem wieder in den Vordergrund tritt.

Auf 100 000 junge Menschen zwischen 15 und 34 Jahren kommen in Japan derzeit 18 Selbstmorde pro Jahr, fast dreimal so viele wie in Deutschland. Seit 2014 ist dies die häufigste Todesursache unter Teenagern. »Die Kampagne, mit der die Regierung Selbstmorden vorbeugen will, erreicht junge Leute überhaupt nicht«, sagt Ito. Ein Großteil der Betroffenen sei entweder nicht in einem Unternehmen angestellt oder würde bei seelischen Problemen sowieso kaum bei einer Hotline anrufen. »Telefonieren ist unter jungen Leuten heute eher etwas Anstrengendes oder sogar Unheimliches. Man nutzt Messaging-Dienste.«

Als 1993 ein Buch über Selbstmordmethoden auf den japanischen Markt kam, wurde es zum Verkaufserfolg. Junge Leute von heute aber lesen eher auf entsprechenden Websites oder Onlineforen. »In Japan wird über Google jeden Monat 23 000 mal die Anfrage ›shinitai‹ (›Ich will sterben‹) gestellt«, berichtet Jiro Ito. Deshalb glaubt er, dass heutzutage nicht Telefonleitungen oder Printmedien die besten Anknüpfungspunkte sind, um junge Menschen zu erreichen, sondern das Internet.

Mit Ova bietet Jiro Ito deshalb eine Art Sorgentelefon an, das auch ohne Telefonieren funktioniert - per E-Mail oder Messaging. »Unser Büro ist rund um die Uhr besetzt, E-Mails beantworten wir in kurzer Zeit.« Als Erstes erklären die Mitarbeiter von Ova, dass man einen Namen wissen will, mit dem die Person angesprochen werden möchte. Das könnten auch Spitznamen sein. »Und dann hören wir vor allem zu und fragen nach, um die Logik zu erkennen, die zu Selbstmordgedanken führt. Die meisten Personen wollen eigentlich nicht sterben, aber wissen aus ihren Problemen keinen Ausweg. Da versuchen wir, Vorschläge zu machen.«

An den Stoßzeiten der Selbstmorde unter Teenagern lassen sich deren Motive erahnen. Im September und April, wenn nach den Ferien die Schule wieder beginnt, steigt die Selbstmordrate etwas an. Laut einer Untersuchung von Kenzo Denda, Professor für Gesundheitswissenschaften an der Universität Hokkaido, leidet jedes vierte Kind auf einer weiterführenden Schule unter Depressionen. Häufig sei Mobbing ein Grund dafür, und unter depressiven Kindern sei Selbstmord wiederum besonders häufig.

Chika Tsuda, eine Lehrerin im zentral gelegenen Kobe, glaubt, die wesentlichen Probleme zu kennen. »Jugendliche sind von morgens bis abends in der Schule, dort wird gegessen und Sport oder Musik gemacht. Ihr einziges weiteres soziales Umfeld ist das Elternhaus.« Wer also in der Schule soziale Probleme habe, könne diese ansonsten meist nur daheim ansprechen, wovor aber viele junge Menschen, aus Angst die Eltern zu enttäuschen, zurückschreckten.

Zudem: »Es gibt großen Druck in unserer Gesellschaft, normal zu sein. Anderssein wird kaum geschätzt.« Konformität zu fördern, sei heutzutage zwar meist nicht mehr die Absicht der Lehrer, glaubt Tsuda, der Druck werde aber häufig aus den Familien durch die Kinder in den Schulalltag getragen. Und wer von der Norm abweicht, ob durch die Noten oder den Haarschnitt, kann zum Mobbingopfer werden.

Müsste die Schule dies nicht erkennen und einschreiten? Ja, wenn sie es könnte, meint Jiro Ito. »Natürlich gibt es die Fälle, in denen Schulen wie auch Arbeitgeber die Probleme im eigenen Haus verschweigen, um die eigene Reputation zu schützen. Aber häufiger ist der Fall, dass die Lehrer davon gar nichts mitbekommen.« Chika Tsuda kennt dies aus ihrem Alltag. »Wenn Schüler im Unterricht gehänselt oder während der Pause in den Mülleimer gesteckt werden, dann sehen wir Lehrer das natürlich. Aber wie sollen wir deren Chatgruppen überwachen?«

Und wenn es tatsächlich einen Selbstmord gegeben habe, erführe man nicht einmal als Lehrer unbedingt davon. Dann komme ein Kind eben nicht mehr zur Schule. »Man macht sich dann seine Gedanken«, sagt Tsuda, die solche Geschichten von Kollegen kennt. »Aber es kann gut sein, dass die Eltern so ein unangenehmes Ereignis auch nicht zum großen Thema machen wollen.«

Der Fall der Wrestlerin Hana Kimura hat auch deswegen so hohe Wellen geschlagen, weil hier die Öffentlichkeit auf Missstände wie das Mobbing als mögliche Ursache aufmerksam gemacht wurde. Doch wer kann etwas ändern? Ova testet auch neue Wege, um mit jenen, die mit dem Gedanken an den Freitod spielen, in Kontakt zu kommen. Bei Google hat Jiro Ito Anzeigen geschaltet, die immer dann aufscheinen, wenn Begriffe wie »shinitai« (»ich will sterben«) oder »jisatsu houhou« (Selbstmordmethoden) eingegeben werden. Ganz oben steht bei Google dann ein Link mit dem Titel: »Für dich, der/die über Selbstmord nachdenkt«, der auf eine Website mit Ermunterungen und Gesprächsangeboten weiterleitet.

Mittlerweile hat Ova mit mehreren Schulen im Westen Tokios eine Kooperation etabliert, um vor Ort über das Problem Selbstmord und die Arbeit des Vereins zu sprechen. Die Sichtbarkeit von Initiativen wie Ova, glaubt er, sei das Wichtigste. »Meistens ist es bei uns nämlich so: Sobald wir Kontakt zu jungen Menschen aufbauen, verläuft dieser auch positiv.« Allerdings wisse er auch, dass die zahlenmäßig wichtigste Gruppe noch weiterhin kaum erreicht wird. »Jungen nehmen sich deutlich häufiger das Leben als Mädchen, gleichzeitig kommen 70 Prozent unserer Kontaktanfragen von Mädchen. Jungen sind leider seltener bereit, nach Hilfe zu suchen.«

Ito ist trotzdem guter Dinge, dass sich etwas erreichen lässt: »Der Anteil der Personen, die den Link sehen und dann auch draufklicken, ist doppelt so hoch wie bei anderen Anzeigen.« Im ersten Jahr hat Ova auf diese Weise allein im Westen von Tokio 300 E-Mails von Menschen erhalten, die mit dem Tod liebäugelten. »Die meisten lassen sich von uns überreden, es mit dem Leben noch einmal zu versuchen.« Ein weiteres positives Zeichen sei dies: Das Konzept von Ova wird mittlerweile von mehreren Vereinen in Japan kopiert.

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Wenn Sie selbst traurige Gedanken haben oder vielleicht sogar an Suizid denken, versuchen Sie, mit anderen darüber zu sprechen. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie sich melden können. Die Telefonseelsorge bietet rund um die Uhr und kostenfrei Beratung bei Sorgen und Krisen: 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222 oder 116 123. https://www.telefonseelsorge.de/suizidpraevention/

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