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Frühstück ist keine Freizeit

Bei der Betreuung von Senioren im Haushalt durch osteuropäische Frauen lauern viele Fallstricke für Letztere

  • Susanne Romanowski
  • Lesedauer: 9 Min.

Eigentlich hat Sylwia R. gern als Betreuungskraft in Deutschland gearbeitet: »Ich bin alleinerziehende Mutter. Ins Ausland zu fahren hat für mich etwas von einem Abenteuer.« Dafür verließ die Polin mehrmals im Jahr ihre Heimatstadt im Südosten des Landes, um sich einige Wochen lang, erst in Italien und dann in Deutschland, um alte Menschen zu kümmern.

Trotzdem sagt sie: »Man gerät in Abhängigkeit.« Wie sehr, das erfuhr Sylwia R. im Februar, als sie krank wurde. Die Vermittlungsagentur, die sie mit der Dienstleistung in der deutschen Familie beauftragte, verweigerte ihr ihren Lohn und forderte Strafzahlungen. Bis heute befinden sich die Betreuungskraft und die Agentur im Rechtsstreit. Auch deshalb will Sylwia R. ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen.

So wie die Polin sind viele Mittel- und Osteuropäer*innen als sogenannte »Live-in«-Betreuungskräfte in Deutschland, Österreich oder der Schweiz tätig. Wie viele genau, ist nicht bekannt. Gewerkschaften, Wissenschaftler*innen und Agenturenverbände schätzen, dass in der Bundesrepublik jährlich zwischen 300 000 und 700 000 Betreuungskräfte - meist Frauen - tätig sind, vor allem aus Polen. Ein Teil von ihnen arbeitet immer noch informell; gerade hier ist kaum abzuschätzen, wie viele Personen dies betrifft.

Viele begleiten die hilfsbedürftigen Alten im Alltag, waschen sie, leisten ihnen Gesellschaft, kochen, kaufen ein. Oft haben sie bereits erwachsene Kinder und sind selbst Seniorinnen. Die meisten von ihnen sind Quereinsteigerinnen ohne medizinischen oder pflegerischen Hintergrund. Sylwia R., Mutter eines neunjährigen Sohnes, ist eine Ausnahme: Sie ist ausgebildete Krankenpflegerin. In Deutschland, sagt sie, verdiente sie mit etwa 1500 Euro netto das Dreifache des Gehalts, das sie in Polen in einer vergleichbaren Position bekommt.

Verträge mit Haken

Wie die meisten mittel- und osteuropäischen Betreuungskräfte kam auch Sylwia R. über einen sogenannten Dienstleistungsvertrag nach Deutschland. Sie werden umgangssprachlich »Müllverträge« genannt, weil Unternehmen damit Renten- und Urlaubsansprüche umgehen können. Eine polnische Vermittlungsagentur akquiriert dabei polnische Betreuungskräfte, während auf der deutschen Seite eine Partneragentur einen Vertrag mit einer Familie schließt. Über die polnische Agentur wird die Betreuungskraft für eine bestimmte Zeit entsandt. Während die Betreuungskräfte am Ende rund 1500 Euro bekommen, bezahlen Familien den Agenturen oft das Doppelte. Die Sozialabgaben werden in Polen gezahlt. Das Phänomen beschränkt sich nicht auf die Pflegebranche: Das Statistische Amt der Europäischen Union schätzt, dass 2017 rund 27 Prozent aller polnischen Arbeitnehmer*innen über solche Werkverträge angestellt waren.

»Bei den Verträgen liegt der Teufel im Detail«, erläutert Agnieszka Misiuk vom DGB-Netzwerk »Faire Mobilität«, das vor allem mittel- und osteuropäische Arbeitskräfte in Deutschland berät. In den Verträgen, so Misiuk, wird oft ein deutlich niedrigeres Gehalt angegeben als das, welches letztlich ausgezahlt wird. Der Rest wird als Spesen und Zulagen für Fahrtkosten oder Verpflegung vermerkt - und die sind nicht sozialversicherungspflichtig. Dazu kommt, dass Verdienstabrechnungen in Polen nicht obligatorisch sind. Sylwia R. sah also erst, als sie selbst einen Antrag bei der staatlichen Sozialversicherung in Polen stellte, wie niedrig die gezahlten Beiträge ausgefallen waren. »Für viele Frauen ist das der direkte Weg in die Altersarmut«, so Misiuk.

Ein berüchtigtes Element vieler Übereinkommen ist die Androhung von Vertragsstrafen, wie Sylwia R. selbst erlebte. Im Januar fuhr sie für einen Monat zu einer Familie, bei der sie zuvor schon gearbeitet hatte. »Das waren Leute mit ganz viel Herz«, sagt sie. Als sie eines Abends anhaltende Schmerzen in der Brust fühlte, fuhr ein Mitglied der Familie sie ins Krankenhaus. »Ich habe sofort die Koordinatorin in der Agentur angerufen. Aber sie drückte mich weg, sagte, sie sei im Kino. Dabei soll sie doch im Notfall für uns da sein«, erzählt sie. Sie schrieb der Koordinatorin eine Nachricht, in der sie erwähnte, dass sie früher in onkologischer Behandlung gewesen sei. »Das war ein Fehler. Sie sagten, ich hätte eine Vorerkrankung verschwiegen und sollte nun 5000 Polnische Złoty (etwa 1200 Euro) zahlen.« Die Krankenhausrechnung von rund 1200 Euro wollte die Agentur deshalb nicht übernehmen. Den Lohn erhielt sie ebenfalls nicht, obwohl sie den Auftrag bis zum Schluss ausführte.

Bloß: Sylwia R. hatte keine Vorerkrankung. Ihr Gynäkologe hätte sie auf Verdacht an die Onkologie verwiesen, diese habe aber keine Auffälligkeiten feststellen können. Mittlerweile hat Sylwia R. einen Anwalt eingeschaltet. Dass die Agentur Geld von ihr will, ärgert sie: »Hätte die Koordinatorin fünf Minuten Zeit für mich gehabt, hätten wir das Problem nicht. Außerdem sind so viele der Betreuungskräfte schon älter. Die haben alle gesundheitliche Probleme!« Gewerkschaften sehen solche Methoden als Einschüchterungsversuche. Besonders durch die hohen Vertragsstrafen wollten die Agenturen verhindern, dass Betreuungskräfte gegen schlechte Arbeitsbedingungen vorgehen.

Knackpunkt Arbeitszeit

Viele Live-in-Kräfte erzählen von vereinzelten, negativen Erfahrungen wie diesen. Es gibt aber arbeitsrechtliche Bedenken, die die Branche flächendeckend betreffen. Auch für Betreuungskräfte darf die maximale Wochenarbeitszeit höchstens 48 Stunden betragen, nur unter Auflagen darf sie überschritten werden. Zudem sind ausreichende Pausenzeiten und eine Mindestruhezeit von elf Stunden zwischen den Arbeitstagen Pflicht.

Doch Sylwia R. sagt: »Egal, was im Vertrag steht, die Arbeitszeiten werden nicht eingehalten.« Etwas anderes zu erwarten sei ihrer Meinung nach naiv: »Alte und gerade demente Menschen verhalten sich oft wie Kinder. Sie sind egoistisch, sie fürchten sich, sie brauchen Gesellschaft.« Oft würden die Agenturen die Familien außerdem nicht ausreichend darüber aufklären, was erlaubt sei und was nicht, betont Justyna Oblacewicz, die ebenfalls bei »Faire Mobilität« tätig ist.

Eine zentrale Frage, an der sich die Geister scheiden, ist: Was gilt als Arbeitszeit? Für Frederic Seebohm ist diese Frage kaum zu beantworten. Er ist Geschäftsführer des Verbands für häusliche Betreuung und Pflege e.V., dem diverse Vermittlungsagenturen angehören. Seebohm fragt: »Wenn eine Betreuungskraft für sich selber und gleichzeitig für die hilfsbedürftige Person das Frühstück zubereitet, ist das Arbeitszeit oder Freizeit? Unser deutsches Arbeitsrecht ist kaum darauf ausgelegt, das Zusammenleben und Zusammenarbeiten von Menschen zu regeln.« Für Justyna Oblacewicz und Agnieszka Misiuk ist die Frage der Arbeitszeit an dieser Stelle eindeutig geklärt. Sie sehen in solchen Positionen vielmehr die Abwertung von Fürsorgearbeit.

Klarheit könnte ein neues Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg schaffen: Eine Bulgarin hatte geklagt, dass sie einer Seniorin statt der zuletzt vereinbarten 30 Wochenstunden rund um die Uhr zur Verfügung stehen musste und dafür nicht bezahlt wurde. Sie bekam recht. Die Agentur muss nun eine Nachzahlung von rund 30 000 Euro leisten. Sowohl die Beraterinnen von »Faire Mobilität« als auch Frederic Seebohm begrüßen das Urteil. Während die Mitarbeiterinnen des DGB darin den Beweis für eine ausbeuterische Praxis sehen, sieht sich Seebohm in seiner Einschätzung bestätigt, dass eine pflegerische Tätigkeit nicht mit den üblichen Arbeitszeiten zu bewältigen ist. Er spricht sich für eine Flexibilisierung der Beschäftigungsmodelle aus.

Das grundsätzliche Problem aber bleibt, auch aus Sicht von »Faire Mobilität«: Wenn jede Stunde, die eine Betreuungskraft für die Versorgung der pflegebedürftigen Person zur Verfügung steht, mit dem Mindestlohn bezahlt wird, bricht die Branche zusammen. Während die Begleitung eines Familienmitglieds durch eine Betreuungskraft für Mittelstandshaushalte noch leistbar sei, könnte sich kaum eine Familie die Unterhaltung von zwei oder drei Live-ins leisten.

Kleine Alternativen

Für viele Betreuungskräfte steht fest: »Müllverträge« sind nicht die Lösung. Mittlerweile besteht in Polen eine eigene Gewerkschaft, die sich für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen polnischer Beschäftigter in Deutschland einsetzt. Mitgegründet wurde die »Alternatywa« von Izabela Marcinek, eigentlich bildende Künstlerin. Sie kennt die Branche aus verschiedenen Perspektiven, arbeitet selbst als Betreuungskraft und war Koordinatorin in einer Agentur. Sie liebt die Arbeit mit den älteren Menschen, musste aber auch feststellen: »Nicht alle Frauen, die nach Deutschland geschickt werden, sind dafür geeignet. Viele tun es nur für das Geld, ohne an den alten Menschen interessiert zu sein. Andere trinken oder stehlen.«

Anders als Frederic Seebohm, der ebenfalls beklagt, nicht genug geeignete Betreuungskräfte zu finden, sieht sie die prekären Arbeitsbedingungen als hauptsächlichen Grund für die Probleme. »Viele Frauen denken: ›Wenn die Agentur mich nicht schützt, muss ich es selbst tun.‹ Sie verlieren das Herz für die Arbeit.« Die Gewerkschaft appelliert deshalb an den polnischen Staat, die Dienstleistungsverträge abzuschaffen.

Aber welche Alternativen gibt es? Eine Möglichkeit ist die Anmeldung eines Gewerbes. Während das »Selbstständigenmodell« in Deutschland bisher kaum genutzt wird, ist es in Österreich üblich. 2007 formalisierte das Land die Branche und erkannte die häusliche Betreuung neben der ambulanten und stationären Pflege als »dritte Säule« des Pflegesystems an. Damit ist auch die staatliche Bezuschussung der sogenannten Personenbetreuer*innen und ein Anschluss an die professionelle ambulante Pflege möglich. Frederic Seebohm findet dieses System auch für Deutschland ideal. Dagegen sind Gewerkschaften und Wissenschaftler*innen skeptisch, ob zentrale Merkmale der Selbstständigkeit - etwa, dass die Selbstständige nicht weisungsgebunden ist und sie sich ihre Zeit frei einteilen kann - in der Praxis der häuslichen Betreuung einhaltbar sind.

Die zweite Option ist das »Arbeitgebermodell«. Dabei erhält die Betreuungskraft einen deutschen Arbeitsvertrag, der direkt zwischen ihr und der Familie abgeschlossen wird. Laut »Faire Mobilität« sei dies jenes Modell, »das der tatsächlichen Arbeits- und Lebensrealität der Pflegekräfte am nächsten kommt«. So würde berücksichtigt, dass meist die Familien der Betreuungskraft Weisungen erteilen. Gleichzeitig hätte die Live-in-Kraft Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Jahresurlaub. Angewendet wird ein solches Modell bisher nur selten, etwa von der Caritas in Paderborn. Häufig müssten die Familien dann offenlegen, wie sie ihr hilfsbedürftiges Familienmitglied jenseits der Live-in-Kraft unterstützen, etwa mit ambulanten Pflegediensten, um zu zeigen, dass deren Arbeitszeit zumindest theoretisch einzuhalten ist. Auch wenn dieses Modell viele Vorteile für die Betreuungskräfte biete, gestehen die Gewerkschafterinnen ein: »Das Einhalten der Arbeitszeit ist auch hier nicht uneingeschränkt gewährleistet. Jede Entlastung der Betreuungskraft bedeutet zudem eine zusätzliche finanzielle Belastung der Familie.« Seebohm kritisiert, dass mit diesem Beschäftigungsverhältnis alle rechtlichen Unsicherheiten auf die Familien abgewälzt würden.

Sylwia R. arbeitet mittlerweile wieder als Pflegekraft in Polen. Sie verdient weniger, doch auf Dauer sei die Trennung von ihrem Sohn, um den sich in der Zwischenzeit ihre Eltern kümmerten, zu schmerzhaft gewesen. Wenn ihre Eltern einmal alt werden, sagt sie, wird sie sie selbst pflegen, denn »eine Live-in können wir uns nicht leisten«. Plätze in Altenheimen seien ebenfalls rar und teuer. Auch in Polen, sagt sie, sei das Pflegesystem am Limit, die Bezahlung schlecht. Sie fragt sich: »Wie kann es sein, dass alte Menschen immer als Hindernis gesehen werden? Wir werden alle alt und schwach, staatliche Lösungen fehlen.«

An denen mangelt es auch in Deutschland. Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, war für eine Aussage nicht erreichbar. Zwar gibt es gerade in den Bundestagsfraktionen der Linken und der Grünen immer wieder Bestrebungen, die Anliegen mittel- und osteuropäischer Betreuungskräfte zum Thema zu machen. Die Branche operiert dennoch oft im Graubereich des Legalen. Doch die Frage, wie alte Menschen bis zu ihrem Lebensende möglichst würdevoll unterstützt werden können, geht weit über den Aspekt ausländischer Pflegekräfte in Deutschland hinaus. Sie fragt vielmehr danach, welchen Stellenwert eine Gesellschaft den Hilfsbedürftigen grundsätzlich beimisst.

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