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- Beilage zur Buchmesse Frankfurt Main
Ein anderes Zusammenleben
Albrecht Müller präsentiert ein radikales Reformprojekt
Die Revolution ist fällig«, ruft es in roter Schrift. »Aber sie ist verboten« - das ist nur klein in Schwarz hinzugesetzt. Es gibt so viele Unzufriedene in diesem Land, dass ein Buch mit diesem Titel Aufmerksamkeit finden müsste, zumal wenn es von einem politisch erfahrenen Mann stammt wie Albrecht Müller.
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Albrecht Müller: Die Revolution ist fällig. Aber sie ist verboten.
Westend, 192 S., br. 16 €.
Auch jene, die von den bestehenden Verhältnissen profitieren, müssten sich eingestehen, dass nichts so bleiben wird, wie es ist. Die Systemkrise begann schon, bevor Corona ausgebrochen war; sie offenbart sich jetzt deutlicher. Wenn der Kapitalismus sich in der Vergangenheit immer wieder als anpassungsfähig erwies, es ihm immer wieder gelang, einer Krise die Spitze abzubrechen - wird es für die Mehrheiten zum Besseren oder zum Schlechteren führen?
Wie das Ringen hinter den Kulissen ausgeht, hängt von den Kräfteverhältnissen ab. Vor diesem Hintergrund verbindet Albrecht Müller rationale Analyse mit Entschlossenheit und einer Zuversicht, wie sie viele schon nicht mehr haben. In klarer Sprache bietet sein Buch Aufklärung im besten Sinne. Aus den Zeiten als Redenschreiber für Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller und als Wahlkampfmanager von Willy Brandt hat er sozialdemokratische Ideale mitgebracht, die in einer vom Neoliberalismus umgepflügten Gesellschaft je nachdem nostalgisch oder utopisch erscheinen.
Der »Höhenflug der Ungleichheit« hat seit 1980 zu einer Konzentration des Kapitals geführt, die Politiker zunehmend zu Erfüllungsgehilfen macht. Deutsche Hörigkeit gegenüber den USA beruht nicht etwa nur auf den besonderen Beziehungen der BRD zu dieser (»ihrer«) Siegermacht des Zweiten Weltkrieges, auf Dankbarkeit für den Marshall-Plan, der freilich auch jenseits des »Großen Teichs« für Profit sorgte, sondern heute noch mehr darauf, dass US-amerikanische Finanzkonzerne Anteile an vielen deutschen Unternehmen besitzen und auf diese Weise Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. Das wird mit Beispielen unterlegt, die aufhorchen lassen. »Politische Korruption ist heute auf höchster Ebene möglich«, stellt Albrecht Müller fest. Wie sich unter diesen Bedingungen seine Forderung erfüllen lässt, US-amerikanischen Einfluss zurückzudrängen, das steht in den Sternen.
»Die Europäische Union ist marode, eigentlich kaputt.« Ja: »Die Kriegsgefahr ist größer geworden.« Mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Vorrücken der NATO in Richtung der russischen Grenze haben Scharfmacher Oberwasser bekommen. »Stellen Sie sich vor, Sie wären der US-Präsident oder Vordenker beim zuständigen Geheimdienst. Was würden Sie dann tun?« Nicht nur an dieser Stelle zeigt sich Albrecht Müllers Talent, mit den Lesern in Dialog zu treten und dabei Dinge mitzuteilen, die viele gar nicht wissen (können). Es sei denn, sie verfolgen die »Nachdenkseiten« im Internet, die er 2003 ins Leben gerufen hat. »Bei befreundeten Nationen funktioniert sowohl der personalpolitische Einfluss als auch der Einfluss auf Sachentscheidungen über ein Heer von Beratern.« Da werden Namen genannt und Institutionen. Allein deswegen wird Albrecht Müller Gegenwind zu erwarten haben oder eben »Windstille« in manchen Medien, die sein Buch einfach totschweigen werden.
Dass er ein begnadeter Polemiker ist, weiß jeder, der schon mal etwas von ihm gelesen hat. Dass er auch für seine »Nachdenkseiten« streitet, wenn er sich mit den etablierten großen Medien auseinandersetzt, ist umso plausibler, je mehr er seine Argumente mit Fakten unterlegt. Wer sind die Geldgeber wofür? Welche Interessen werden wie verborgen? Gerade diese Konkretheit macht das Buch so brisant.
Welche (unerwünschten - oder gar erwünschten?) Auswirkungen hat die ökonomische Unsicherheit insbesondere auf junge Menschen? Weshalb sinkt das Vertrauen in Parteien, gerade auch in die SPD? Welche politische Rolle spielt konkret die Rüstungswirtschaft? Und was macht die neue Corona-Erfahrung mit uns? »Wegen der Corona-Krise ist die Würde von Menschen reihenweise verletzt worden.« Und es wurde offenbar, wie nationalen Interessen der Vorrang gegeben wurde, als gemeinsames Handeln der EU gefragt war. All das könnte sich rächen, und es liegt im Interesse staatlicher Macht, denke ich, es nicht zu einer Eskalation kommen zu lassen.
Vielleicht ist die »Büchse der Pandora« ja schon geöffnet. Die AfD wird Wahlerfolge haben. Die Konflikte in Osteuropa spitzen sich zu. Die EU beschließt immer neue Sanktionen gegen Russland und hetzt gegen Putin. Was wäre, wenn dort Kräfte zum Zuge kämen, die angesichts dauernder Demütigungen weniger geduldig sind? Revolution?
Der Buchtitel wird im Text relativiert. Wenn Albrecht Müller betont, dass »eine radikale Umverteilung und Umwälzung der Machtverhältnisse fällig wäre«, weiß er doch, dass eine Revolte auf brutale Gewalt treffen würde. Also doch bloß Reformen?
»Wenn der Begriff sozialdemokratisch nicht so sehr verbrannt wäre, könnte man diesen wiederbeleben.« Dass er nicht weiß, wie eine »neue, tiefgründige Reformbewegung« zustande kommen könnte, dass man sich beim Lesen unter einer »Projektgruppe Neue Gesellschaft« noch nichts Konkretes vorstellen kann, ist ihm nicht vorzuwerfen. Schon forderten Demonstranten in mehreren Städten eine gerechte Umverteilungspolitik in der Krise. Reformpolitik braucht den Protest auf der Straße und wird immer auf Unzufriedenheit treffen. Wenn etwas erreicht wird, so reicht es vielen eben nicht. So spalten sich die Linken - zum Nutzen der Gegenseite.
Hinzu kommt, und davon ist im Buch gar nicht die Rede, dass nationales Agieren politisch, ökonomisch, sozial in einem internationalen Kontext erfolgt. Selbst die Benachteiligten wissen, dass sie auf Kosten der sehr viel Ärmeren in anderen Ländern leben. »Wacht auf, Verdammte dieser Erde« - das Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung wird bald 150 Jahre alt. Wir werden es feiern und dabei, wenn wir ehrlich sind, auch etwas beklommen sein in der Vorstellung, wie sich der Aufruf erfüllen könnte.
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