• Kultur
  • Beilage zur Buchmesse Frankfurt Main

Wunderkammer mit verborgenem System

Bitte der Assoziation vertrauen: Alexander Kluges »Russland-Kontainer«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Normalerweise schreibt man, um sich etwas Fremdes anzueignen, sich Unvertrautes vertraut zu machen. Das Irritierende an Alexander Kluges »Russland-Kontainer« ist, dass der Autor offenbar dem Aneignungsprozess als solchem wie auch dem heimatlichen Vertrautsein gleichermaßen misstraut. Er lässt das Fremde nicht nur in der Fremde, ihn befremdet sogar das Eigene.

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Alexander Kluge: Russland-Kontainer. Suhrkamp, 444 S., geb., 34 €.

Somit haben wir es hier mit einem höchst distanzierten Schreibunternehmen zu tun, einem Sammelwerk, das keinem durchgehenden Prinzip, gar einer Systematik folgt. Der rote Faden als solcher, der durch die Geschichte zu führen vorgibt, ist Kluge suspekt - nicht einmal der Blutspur mag er glauben, die Tragödie kontert er mit Statistik. Die einzige geistige Bewegungsform, die Kluge für angemessen hält, ist die Assoziation. Sie führt Autor und Leser gleichermaßen durch alle Weltgegenden und Zeiten. Sie suggeriert und manipuliert nicht, verwandelt nicht Idee in Ideologie. Denn wer sich der Assoziation überlässt, der geht dem Augenblick und dem Zufall in der Geschichte nach. Und der Weg ist nie vorbestimmt; ihm zu folgen wird zum ungewissen Abenteuer.

Vom Persönlichsten, fast schon Privaten, hin zum kältesten Gegenpol, der mathematischen Formel - das ist das Paradox, in dem jede Selbst- und damit Welterkenntnis gefangen sitzt wie ein zu lebenslänglicher Haft Verurteilter in seiner Einzelzelle. Aber bei allem Misstrauen in geschichtliche Zusammenhänge, von historischen Gesetzen nicht zu reden: Herauszufinden, welche verborgenen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Phänomenen dennoch existieren, das treibt Kluge dann doch mitten hinein ins Labyrinth, das die Erkenntnis für ihn ist.

Das Buch ähnelt seinen Filmen, setzt immer auch auf das visuelle Element, mitsamt suggestiven Zwischenüberschriften und Bildstrecken in Briefmarkengröße, die wie Kontaktabzüge wirken. Der Kontainer wird zum Bauwagen, denn allen Zeiten gemeinsam ist, dass ihnen etwas fehlt, das nun nachträglich hinzugefügt werden muss. Um den Kontakt des Lesers, der auch ein Betrachter des historisch fern gerückten Gegenstandes ist, geht es Kluge. Er verordnet ihm gleichsam einen Grundkurs in Archäologie - denn das Puzzle der Fundstücke zusammensetzen muss jeder selbst. Für Kluge ist es eine Grundentscheidung, die er bereits vor langer Zeit traf: Besser ist es, dem Leser eine - wohlüberlegt komponierte - Materialsammlung vorzusetzen, als ihn zum Konsumenten von Fertigprodukten zu machen.

»Russland-Kontainer« verwendet ungeschnittenes und geschnittenes Material. Der Titel spielt auf die - aus Kluges Sicht - fremde Seite Westeuropas an: den Osten, Russland und seine sowjetische Geschichte. Das erste Kapitel hebt an mit einer langen Überschrift, die endet: »Ich fange an zu erzählen, noch bevor ich etwas weiß.« Für eine solche Suchbewegung im Kleist’schen Sinne (der »allmählichen Verfertigung der Gedanken bei Sprechen«) bekommt einer der filmischen Hauptgesprächspartner Kluges das erste Wort, Heiner Müller, der Russland »soweit und sowenig kannte wie ich«. Das scheint mir falsch, denn Müller, dessen Lebensthema die Transformation von Brechts Dramatik in das Spätstadium des Sozialismus war, lebte im Osten, blieb diesem schicksalhaft ausgeliefert, ohne dass ihn als Intellektuellen der Westen deshalb weniger beschäftigt hätte. Bei Kluge war das anders. 1932 in Halberstadt geboren, ist er dennoch ganz und gar Westler geworden, der mit geringerer oder größerer Neugierde in den Osten blickte - diesem jedoch nie ausgeliefert war.

Wenn Heiner Müller also anfangs von der »Wunderkammer« spricht, einem Rätsel, das im Osten liege, dann meint er nicht nur absonderliche Dinge, die man - wie hier nun Kluge - in einer neuzeitlich-medialen Wunderkammer, seinem »Kontainer« versammelt, sondern jene Unwägbarkeiten von Geschichte, die der Osten birgt - von Iwan dem Schrecklichen, Peter dem Großen, Stalin, Gorbatschow und Putin, um nur jene zu nennen, die an der Spitze des Riesenreiches standen und stehen. Dass er jedoch Gorbatschows engen Vertrauten während der Perestroika, Alexander Jakowlew, einen »Ideologen« nennt, der den Begriff »Entfremdung« nicht kenne (nur weil dieser sich bei einer Begegnung mit Kluge von ihm nicht in eine abstrakte Debatte über Kategorien verstricken lassen wollte, mit dem Hinweis, dafür habe er keine Zeit), das ist ein schwerer Lapsus.

Kluge kultiviert in seinem Buch den digitalen Blick. Da gibt es keinen Anfang und kein Ende, es sei denn selbst gesetzt. Der Interpret als Souverän über den Auf- und Untergang von Imperien - ein Thema, das Kluge durchaus beschäftigt. Sein »Kontainer« ist kontaminiertes multimediales Gelände so wie die verbotene Zone in Tarkowskis »Stalker«. Wir folgen einer schier chaotischen Abfolge von Auf- und Abblenden, die erst nach und nach ihren inneren Rhythmus offenbaren - es ist auch die Suche des als Arztsohn geborenen Alexander Kluge nach seiner Herkunft.

Bürgerliche Geborgenheit, von geschichtlicher Dramatik jäh zerrissen. Zuerst hatten 1945 die US-Amerikaner Halberstadt besetzt, dann kamen die Russen, und der Vater musste das Kind der Frau des neuen sowjetischen Stadtkommandanten (eine schwierige Steißlage) zur Welt bringen. Ein Misserfolg wäre lebensgefährlich für die ganze Familie gewesen. So aber gab es zur Feier der glücklichen Geburt ein riesiges Besäufnis zu Ehren von Kluges Vater. Und am nächsten Morgen musste der 13-jährige Sohn ein Schild an die Praxistür hängen, dass diese heute geschlossen bleibt - der Vater hatte mit den Folgen seiner Alkoholvergiftung zu kämpfen.

Geschichte ist eben auch immer Kampf, oft an den ungewöhnlichsten und unmöglichsten Orten. Die Brücken, die Kluge baut, von Kafkas Erzählung »Das nächste Dorf« über Brecht zu Walter Benjamin und weiter zu den Mördern an der Spitze des sowjetischen Geheimdienstes, von Jagoda, Jeschow bis Berija, sind fragil; und ob man über sie zu gehen bereit ist, muss jeder selbst entscheiden.

Interessant der Konflikt zwischen den beiden passionierten Schachspielern Benjamin und Brecht, der gewiss auch einen Lebenskonflikt des Autors Kluge kennzeichnet. Benjamin spricht von der »schwachen messianischen Kraft« in der Geschichte, einem tief verborgenen Ziel in ihr. Brecht fragt sogleich: »Wie kann man sie einsetzen?« Benjamin antwortet: Gar nicht, man könne sie nicht verwenden, nur um sie wissen. Dann sei sie nicht brauchbar, so Brecht.

Kluge jedoch scheint mit Benjamin auf der Suche nach jenem Licht, das aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinüberscheint, wohl wissend, »Rückbindung an Wurzeln in der Geschichte« sei »überhaupt der einzige Brunnen von Hoffnung«.

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