Wieder Teenie sein, bitte!

Queer gestreamt

  • Marie Hecht
  • Lesedauer: 4 Min.

Marie Hecht

Mit meinem Laptop auf den Oberschenkeln liege ich im Bett und starte die erste Folge der philippinischen Webserie »Gameboys«. Pinke Herzchen und lachende Emojis fliegen über den Bildschirm, während ein Junge im Gaming-Livestream zockt, bis er von Angel2000 besiegt wird. »Ein Neuling hat gerade Cairo besiegt«, schreibt ein User im Chat. Das hatte ich nicht erwartet, als ich unter dem Hashtag queertainment auf die Serie stieß. Etwas enttäuscht scrolle ich auf meinem Handy herum. In meinem Insta-Account ploppen Nachrichten davon auf, dass die Covid-19- Infektionszahlen steigen. Ich schaue wieder auf den Laptop-Bildschirm, dort scrollt Cairos Timeline nach unten: »Breaking News: Das Gesundheitsministerium bestätigt 102 neue Corona Fälle auf den Philippinen.« Rechts oben im Fenster der Social-Media-Plattform ploppt eine Freundschaftsanfrage von Gavreel (Angel2000) auf. Während Cairo den Curser zwischen »Bestätigen« und »Ablehnen« hin und her gleiten lässt, verschwimmen in meinem Kopf die digitalen Realitäten. Die Serie hat mich!

Im März 2020 verhängt die philippinische Regierung als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie einen Lockdown, der die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung - außer in Notfällen oder für die Arbeit - komplett einschränkt. Während dieser so genannten Luzon-Gemeinschaftsquarantäne entsteht die Webserie »Gameboys«, die als das erste philippinische Drama der Kategorie »Boys’ Love« (BL oder Yaoi) gilt. Die 13 Folgen können auf Youtube angesehen werden.

Typisch für das BL-Genre ist jeweils ein aktiver und ein passiver Teil der Beziehung: Einer, der überzeugt und einer, der überzeugt wird. So auch bei Cairo und Gavreel. Nach seinem gewonnen Spiel im Livestream will Gavreel mehr als ein Rematch und fängt an, ihn in Nachrichten und Videocalls zu umschmeicheln. Während sich Cairo zunächst gegen die charmanten Anmachen mit Sarkasmus wehrt, wird bald schon klar, dass auch er neugierig ist. In der ersten Folge »Pass or Play« entscheidet sich Cairo für’s Spielen und akzeptiert Gavreels Bedingung für ein Rematch: sich umwerben zu lassen.

»Eine BL-Serie zu haben, ist ein großer Schritt für unsere [philippinischen] Medien, weil wir endlich die Barriere des Konservatismus durchbrechen, die unser Land so lange geplagt hat«, lautet ein Kommentar auf Youtube über »Gameboys«. Die Serie ist auf vielfältige Weise innovativ: Sie spielt sich fast ausschließlich auf einem Computer-Bildschirm ab, auf dem die Protagonisten sich Nachrichten schreiben, Videotelefonieren, Onlinemeetings abhalten oder Stories teilen.

Gedreht während des Lockdowns, führte Ivan Andrew Payawal online Regie und die Hauptdarsteller Kokoy de Santos und Elijah Canlas filmten in ihren eigenen Zimmern, machten ihr Make-Up selbst - und sogar Verwandte wurden zu Darstellenden. Die Webserie zeigt nicht nur, wie eine moderne Produktion in Quarantänezeiten laufen kann, sondern sie stellt auch die Liebe zweier heranwachsender Jungen in den Mittelpunkt - in einem Land, in dem die katholische Religion einen starken Einfluss auf die Normen der Gesellschaft hat und gleichgeschlechtliche Partner*innenschaften zwar akzeptiert, aber kaum anerkannt werden.

Auch Cairo läuft mitten im Lockdown von Zuhause weg, weil seine vermeintlich beste Freundin ihn ohne seinen Willen vor seiner Familie outet. Der gesundheitlich angeschlagene Vater sucht nach seinem Sohn, infiziert sich mit Covid-19 und landet im Krankenhaus. Damit thematisiert »Gameboys« neben den Folgen einer globalen Pandemie und den Möglichkeiten und Grenzen von Liebe in Zeiten von Social Distancing auch den sozialen Druck, dem queere Menschen ausgesetzt sind. Ganz besonders in Quarantänezeiten fehlen jungen Personen des LGBTIQ*-Spektrums, die sich outen oder ausprobieren wollen, sichere Orte, an denen sie sich austauschen können. Viele hocken mit ihren Familien zu Hause und so verständnisvoll wie Cairos Familie, die sich Stück für Stück mit dem neuen Leben ihres Familienmitglieds anfreundet, sind nicht alle. Die »Gameboys« Cairo und Gavreel kommen sich, trotz Abstand, immer näher. Doch immer wieder sind sie neuen Herausforderungen und Schicksalsschlägen ausgesetzt.

Die Darsteller spielen sich Folge für Folge gefühlvoll in mein Herz. Auf dem nie still haltenden Bildschirm entwickelt sich eine kitschige Romanze und während ich anfangs noch mit dem theatralischen Liebesspiel gefremdelt habe, entfährt mir im Laufe der Zeit doch immer wieder ein tief berührtes »Oh!«. Und heimlich wünsche ich mir, doch mal wieder ein frisch verliebter Teenie zu sein.

»Gameboys« mit deutschen Untertiteln auf: www.youtube.com/c/TheIdeaFirstCompany

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -