- Politik
- Sozial-ökologischer Systemwechsel
Müssen wir regieren?
Wie ein Systemwechsel gelingen kann, der soziale Sicherheit, gute Löhne und radikalen Klimaschutz vereint
Was wir alles verändern wollen, ist nicht wenig: Die Finanzmärkte entmachten, die Entscheidungen über Investitionen demokratisieren und in eine ökologisch und sozial gerechte Richtung lenken und den Staat selbst demokratisieren und verändern. Das wären völlig neue Grundlagen für unsere Gesellschaft, die Verschiebung der Kräfteverhältnisse wäre gewaltig.
Wie können wir uns diese Umwälzungen vorstellen? Welche Zwischenschritte müssen wir gehen, wie können wir Fortschritte und Landgewinne der Bewegungen sichern? Die linke Diskussion um den Staat und damit ums Regieren hat eine lange Geschichte. Sie ist durch viele Missverständnisse und Illusionen geprägt, beispielsweise, dass der Staat ein neutrales Instrument sei, das es zu erobern gilt; dass wer den Staat für sich gewinnen würde, auch dessen Macht in den Händen halte; oder ganz anders gedacht: dass der Staat nur ein Instrument in den Händen von Kapital und Konzernen sei. Vorstellungen wie diese ziehen sich durch die lange Strategiediskussion auch der Linken, wie sie es mit dem Regieren halten solle.
Es ist wichtig zu verstehen, dass sich im Staat Kräfteverhältnisse verdichten. Er ist das Feld, auf dem die verschiedenen Interessen (Klasseninteressen) ausgetragen werden. Der Staat ist nicht neutral und nicht das Zentrum der Macht. Er ist das Feld, die Form, in der sich vorrangig die Kapitalinteressen organisieren. Wie die Produktionskosten gesenkt und neue Märkte erschlossen werden können, zum Beispiel in anderen Ländern oder durch Privatisierung öffentlicher Aufgaben. Auch wie Interessen von Beschäftigten und anderen Gruppen aufgegriffen werden, sofern sie gut organisiert sind. Sozialstaat, Arbeitszeitverkürzung, gebührenfreie Bildung sind Ergebnisse von Kämpfen. Die Gesetze werden schließlich vom Parlament verabschiedet, aber das Parlament selbst ist nicht das alleinige Zentrum der Entscheidungen. Die Macht, die sich im Staat verdichtet, liegt ebenso in zentralen Ministerien und informellen Netzwerken zwischen diesen, in der Zentralbank, den staatlichen und öffentlichen Institutionen, Polizei und Militär. Gleichzeitig verdichten sich die Kräfteverhältnisse auch nicht »von selbst« im Parlament, auch das muss organisiert werden. Wer also im Parlament sitzt und nicht verbunden ist mit den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, sie nicht mitdenkt und die eigenen Kräfte mit organisiert, wird keine Siege erringen können. Werden jedoch wichtige Forderungen und Ziele nicht in Gesetze gegossen und staatlich abgesichert, kann gewonnenes Terrain schnell wieder verloren gehen. Wird die Ökonomie nicht verändert und wirtschaftliche Macht eingeschränkt, schlägt sie schnell wieder in politische Macht um. Das sehen wir gerade in einigen lateinamerikanischen Staaten.
Die Wählerinnen und Wähler erwarten von einer linken Partei, dass sie konkret etwas verändert, wo es geht auch regiert und dann auch ihre Kernprojekte durchsetzt. Wenn das aufgrund der Kräfteverhältnisse schwierig ist, wächst die Enttäuschung. Die Strömungsdebatten und falschen Gegensätze nehmen schnell zu.
Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse für die Frage des linken Regierens zum Ausgangspunkt zu machen, heißt unbedingt, die Veränderung des Kapitalismus und insbesondere des Staates ernstzunehmen. Der Staat wird schleichend entdemokratisiert und für den direkten Einfluss von Konzerninteressen geöffnet. Selbst sozialdemokratische Intellektuelle wie Colin Crouch haben daher schon vor Jahren von einer Entwicklung zur »Postdemokratie« gesprochen, die zur Krise der traditionellen Sozialdemokratie beigetragen hat.
Die Sozialdemokratie konnte in der Nachkriegszeit sozialstaatliche Reformprojekte durchsetzen, weil es starke Gewerkschaften gab und weil die Wachstumsraten so hoch waren, dass die Kosten ohne heftige Verteilungskämpfe aufgebracht werden konnten. Die wachsende Kaufkraft der lohnabhängigen Klasse war eine zentrale Voraussetzung für den Aufschwung der fordistischen Massenproduktion. Der Kapitalismus war stabil und nationalstaatlich reguliert. Trotzdem mussten viele wichtige soziale Fortschritte wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, der freie Samstag oder die Montanmitbestimmung (paritätische Mitbestimmung in Aufsichtsräten in der Stahlindustrie und im Bergbau) durch heftige Streiks gegen den Widerstand von Unternehmern und Teilen des Staates durchgesetzt werden. Etliche sozialstaatliche Errungenschaften wurden erst tariflich erkämpft und dann in Gesetze gegossen.
Stellen wir uns kurz vor, in heutigen Zeiten würde in Koalitionsverhandlungen ernsthaft über die Steuerpläne der Linken entschieden und die Einführung einer Vermögensteuer stünde bevor. Die gesellschaftliche Mobilisierung der Kapitalverbände, der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« im Verbund mit der Springer-Presse und anderen Medien und der geschlossenen Front von CDU/CSU, FDP, AfD wäre enorm. Der Untergang des Abendlandes wäre noch das Geringste, was prophezeit würde. Androhungen von Verlagerungen in andere Länder, Massenentlassungen und Ausgliederungen wären Teil dieser Kampagne. Ohne gestärkte Gewerkschaften, Sozialverbände, soziale und ökologische Bewegungen, die eine linke Regierung solidarisch unterstützen (und unter Druck setzen), und ohne mehrheitliche Zustimmung der Bevölkerung und eine eigene soziale und linke Gegenöffentlichkeit wäre das kaum durchhaltbar. Ebenso wenig ohne eine stärkere Linke.
Es braucht also eine organisierte Gegenmacht und linke Mehrheiten, um den dringend notwendigen sozial-ökologischen Systemwechsel voranzubringen. Deshalb darf linkes Regieren nicht einfach mit rot-rot-grünen Koalitionen oder Mitte-Links-Regierungen verwechselt werden. Es geht nicht um Spiegelstriche in Koalitionen, sondern um einen grundlegenden Richtungswechsel der Politik. Spätestens seit der rot-grünen Agenda-Regierung unter Schröder und Fischer gibt es kein linkes Lager der Parteien mehr. In der derzeitigen Verfassung von SPD und Grünen wäre der hier vorgestellte linke Green New Deal kaum zu erwarten, zumal sich die Grünen eine schwarz-grüne Option offenhalten und in einigen Bundesländern bereits relativ geräuschlos mit der CDU regieren.
Wir können jedoch in anderen Ländern sehen, welche Mobilisierung selbst bei bescheidenen Aussichten auf progressive Veränderungen möglich ist, welche gesellschaftliche Dynamik die Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders, die Politik von Jeremy Corbyn an der Spitze der Labour Party von 2015 bis 2019 oder auch das gescheiterte Regierungsprojekt von Syriza in Griechenland ausgelöst hat. Es ging dort um die politische Macht oder zumindest um Mehrheiten und die damit verbundenen Hoffnungen auf grundlegende Veränderungen. Die Linke kann die Erwartungen auf progressiven Wandel nicht einfach ausklammern, auch wenn die Voraussetzungen dafür noch nicht vorhanden sind.
Eine Bewegung für einen linken Green New Deal muss daran arbeiten, auch die Basis der verschiedenen Parteien, insbesondere der Sozialdemokratie und der Grünen, zu erreichen. Die Linke kann politische Angebote an diese Parteien machen, die auch deren Anhängerinnen Anhänger überzeugen. Sie müssen dafür geeignet sein, in den Betrieben und auf der Straße gemeinsam zu kämpfen. So können auf jeder Ebene mit Teilen der Parteien Bündnisse geschlossen werden. Eine wirkliche sozial-ökologische Erneuerung wird nur von einer starken gesellschaftlichen Bewegung, einer linken Hegemonie und einer gestärkten Linken ausgehen können. Die sozialen Bewegungen der letzten Jahre haben Hunderttausende Menschen für Klimaschutz, unteilbare Solidarität, gegen Rassismus und für bezahlbare Mieten mobilisiert. Die Streiks in den Dienstleistungsberufen haben zugenommen, neue Streikformen wurden entwickelt. Frauen und Migrantinnen und Migranten sind wichtige Treiber vieler heutiger sozialer Bewegungen. Bislang ist daraus keine gesellschaftliche Kraft entstanden, die eine demokratische und transformative Macht entfalten könnte, die die bestehenden Parteien und die Regierung, die staatlichen Institutionen und die öffentliche Meinung ergreift und verändert. Auf eine Mitte-Links Regierung zu setzen, ohne eine grundlegende Veränderung der Kräfteverhältnisse herbeiführen zu können, wäre zum Scheitern verurteilt.
Wir müssen die »Regierung« von einer Hegemonieperspektive aus denken. Die Ablehnung von Regierungsbeteiligungen aus Prinzip führt in eine Sackgasse, wenn sie sich auf einen Radikalismus der Worte und Programme beschränkt und nicht in der Lage ist, Durchsetzungsmacht für konkrete Verbesserungen der Arbeits- und Lebensverhältnisse zu organisieren.
Die Betonung der »Regierungsfrage« kann aber umgekehrt dazu führen, die entscheidende Frage der Hegemonie und des Aufbaus demokratischer und transformativer Macht der Menschen in ihrem Alltag zu vernachlässigen. Das kann schnell in krachenden Niederlagen linker Regierungsprojekte enden - oder in der Zähmung der linken Veränderung im Rahmen einer kapitalistischen Modernisierung. Die Linke kann ihre politische Bedeutung und ihren Nutzen nicht auf die Regierungsbeteiligung beschränken und sich selbst auf eine Regierungspartei im Wartestand reduzieren, wie das bei den Grünen zu beobachten ist. Wir wollen eine linke, sozial-ökologische und sozialistische Hegemonie in der Gesellschaft.
Die Linke tritt als treibende Kraft auf, als Motor der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen für einen sozialen und ökologischen Systemwechsel. In einigen Fragen gibt es starke Gemeinsamkeiten zwischen Anhängerinnen und Anhängern von SPD, Grünen und Linke und bereits gesellschaftliche Mehrheiten, zum Beispiel für eine höhere Besteuerung der Reichen, für armutsfeste Renten und für gute statt prekäre Arbeit. Wir sollten parteiübergreifend und mit sozialen Bewegungen und Gewerkschaften daran arbeiten, dass eine gesellschaftliche Allianz für einen Green New Deal entsteht und sich auch über verbindliche Einstiegsprojekte verständigt, die eine sozial-ökologische Regierung mindestens auf den Weg bringen sollte und die mit organisierenden Kampagnen und Mobilisierung verbunden werden.
Eine linke Regierungsbeteiligung muss mit klaren Projekten verknüpft sein, mit Mindestbedingungen. Dazu gehören die deutliche Erhöhung des Mindestlohns, armutsfeste und lebensstandardsichernde Renten, soziale Mindestsicherung statt Hartz IV, Tarifbindung für alle Beschäftigten und sichere statt prekäre Arbeit, die Deckelung der Mieten, die Einführung einer Vermögensteuer, Abrüstung und Stopp von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Ebenso wird es darum gehen, die wachsende Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen und Millionen neuer tariflich und sozial regulierter Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor mit demokratischer Mitbestimmung zu schaffen. Die konkreten Projekte müssen Teil eines demokratischen Prozesses in der Partei und in den mit uns verbundenen Bewegungen sein, sonst sind Enttäuschung und Demobilisierung vorprogrammiert. Zudem müssen die konkreten Forderungen offensiv mit einem Einstieg in den sozial-ökologischen Systemwechsel verbunden werden.
Der linke Green New Deal ist ein Vorschlag für eine neue inhaltliche Plattform für soziale Bündnisse und politische Zusammenarbeit. Aus Mieteninitiativen oder Gewerkschaften werden keine Umweltinitiativen. Es ist jedoch möglich, die Perspektiven zu verschränken, sich gegenseitig zu stärken und die Kräfte zu bündeln. Dazu gilt es, die Herausbildung gemeinsamer politischer Ziele zu befördern. Noch wichtiger ist es, gemeinsame Praxisansätze zu entwickeln und damit neue Erfahrungen der Solidarität und Zusammenarbeit zu sammeln. Stärke und politischer Einfluss entstehen in der kollektiven Praxis und Bewegung.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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