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Stockholm lässt sich nicht anstecken

Schweden hält an langfristiger Coronastrategie fest

  • Peter Steiniger
  • Lesedauer: 4 Min.

Bereits Anfang Juli schien für Schweden das Schlimmste vorbei zu sein. Die Zahl der Covid-19-Fälle in dem skandinavischen Land sank auf stabil niedrige Werte. Doch seit Mitte September ändert sich das Bild, die Zahl der Infektionen steigt stetig an und erreicht wieder Werte wie zuletzt im April. Bis heute weiter im unteren einstelligen Bereich liegt die Anzahl der Personen pro Tag, die wegen einer Covid-19-Erkrankung intensivmedizinische Betreuung benötigen. Nach der Statistik der Gesundheitsbehörde Folkhälsomyndigheten sind seit Monaten auch nur noch vereinzelt Todesfälle zu beklagen, die in einem Zusammenhang mit dem Virus stehen können. Zuletzt traten ein bis zwei Covid-19-Todesfälle pro Woche auf.

Von den wöchentlich etwa 120 000 durchgeführten Coronatests fällt mit 2,9 Prozent jedoch ein höherer Anteil als zuletzt positiv aus. Auf einer Pressekonferenz der Gesundheitsbehörde Ende vergangener Woche bezifferte die Leiterin ihrer mikrobiologischen Abteilung, Karin Tegmark Wisell, den Indikator der Fälle pro 100 000 Einwohner im 14-Tage-Schnitt landesweit auf 68, in der Hauptstadt Stockholm liegt dieser Wert mit 100 noch deutlich darüber. Auch wenn man laut Tegmark Wisell bisher »keinen Effekt« auf die Entwicklung der Zahl der Verstorbenen sehe, gehe es angesichts der weiteren Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung nun darum, die Risikogruppen möglichst effektiv zu schützen.

Die schwedische Teststrategie richtet sich nach der Phase der Pandemie und kalkuliert ein, dass auch nach einem allgemeinen Abklingen regionale und lokale Ausbrüche die Gesamtsituation wieder verschärfen können. In einer Hochphase der Ausbreitung sollen die Tests dazu dienen, Gesunde zu identifizieren, um das Funktionieren gesellschaftlich notwendiger Bereiche zu sichern und um Gesundheit und Pflege vor einer Überträgern der Krankheit zu schützen. Die vielen Covid-19-Todesfälle im Frühjahr waren zu einem großen Teil auf Ausbrüche in Altenheimen zurückführen. Etliche Pflegeeinrichtungen erwiesen sich als mangelhaft auf den Infektionsschutz vorbereitet. Es fehlte an ausreichendem und qualifiziertem Personal, häufig in Folge der neoliberalen Ökonomisierung von Teilen des Sektors. Mittlerweile haben die Behörden die Situation soweit in den Griff bekommen, dass am 1. Oktober das Besuchsverbot für die Bewohner von Altenheimen aufgehoben werden konnte. Allerdings sind dabei genaue Regeln einzuhalten und an die Bevölkerung wird appelliert, nach Möglichkeit auch weiterhin alternative Möglichkeiten zu nutzen, mit betagten Angehörigen in Kontakt zu bleiben.

Über die Getesteten hinaus sollen sich nach dieser Strategie Personen, die Symptome haben, welche auf die Krankheit hindeuten können, selbst in Isolation begeben. Nur in der frühen Phase und bei einem deutlichen Abklingen der Pandemie soll mit der Identifizierung aller Fälle, durch aktive Kontaktnachverfolgung und Isolierung potenzieller Überträger versucht werden, die Ausbreitung vollständig zu stoppen.

Auf die neue Entwicklung reagieren Behörden und Politik in Schweden mit Sorge, aber beherrscht. Auf eine Maskenpflicht in Alltagssituationen wird weiter verzichtet. Staatsepidemiologe Anders Tegnell schätzt den - noch wenig untersuchten - möglichen Effekt auf das Infektionsgeschehen als bestenfalls gering ein. Die von ihm wesentlich mitgestaltete Strategie zielte von Anfang an auf Konstanz und Langfristigkeit und hat auch die psychosozialen Auswirkungen der Maßnahmen für die Gesellschaft mit im Blick.

An die Existenz der unter Umständen gefährlichen Krankheit und die Notwendigkeit, die Ausbreitung von Corona durch ein entsprechendes Verhalten möglichst zu verhindern, erinnert die Bevölkerung die nationale Gesundheitsbehörde mit einem immer wieder vorgetragenen Mantra dringender Empfehlungen. Die Menschen, insbesondere Ältere, sollen unter anderem Abstand halten, Massenansammlungen und kollektive Verkehrsmittel vermeiden, möglichst zu Hause arbeiten und dort auch bei leichten Anzeichen einer Krankheit bleiben.

Seit den ersten, am letzten Februartag 2020 in Schweden offiziell registrierten Krankheitsfall wurden bis dato insgesamt 98 541 erfasst, 2624 Menschen mussten auf Intensivstationen behandelt werden, 5894 im 10 Millionen Einwohner zählenden Schweden starben an oder mit Corona. Die Statistik verdeutlicht die sehr verschiedenen Risiken nach Geschlecht und Alter. Obwohl mehr Frauen als Männer erkrankten, benötigten fast dreimal mehr männliche Patienten eine intensivmedizinische Betreuung. Knapp 55 Prozent der in Schweden gezählten Coronatoten sind Männer. Während alle Altersgruppen von Infektionen betroffen waren, waren 89 Prozent derer, die daran starben, älter als 70 Jahre, mehr als zwei Drittel hatten bereits die 80 erreicht oder überschritten. Weltweit werden bisher 35 Millionen Coronafälle und mehr als eine Million Tote im Zusammenhang mit Covid-19 gezählt.

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