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Profiteure der Missstände
Die Menschen im Libanon gehen auf die Straße: sie fordern ein komplett neues politisches System
Die Wut der Menschen sitzt tief. Seit dem 17. Oktober 2019 gehen im Libanon Tausende Menschen im Wochenrhythmus auf die Straße. Auslöser war damals ein Versuch der Regierung, eine Steuer auf Onlinedienste wie WhatsApp zu erheben, um eine drohende Staatspleite zu vermeiden. Doch bei den bis heute andauernden Protesten geht es um viel mehr. Die Forderungen der Demonstrierenden sind so utopisch wie verständlich: Ein völlig neues politisches System, in dem nicht wie bislang die wichtigsten Ämter nur bestimmten Konfessionen zustehen.
Im Libanon muss der Staatspräsident ein Christ, der Parlamentssprecher ein schiitischer und der Premierminister ein sunnitischer Muslim sein. Diese konfessionsgebundene Demokratie galt lange als Garant für den Frieden zwischen den einzelnen Religionen - mit den Abkommen von Taif 1989 wurde der fast 15 Jahre andauernde libanesische Bürgerkrieg beendet, bei dem etwa 120 000 Menschen starben.
Doch gleichzeitig ist dieses System ein Nährboden für Korruption und Vetternwirtschaft geworden, und genau davon haben viele Libanesen genug. Seit Jahren befindet sich die Wirtschaft im freien Fall. Der Politikwissenschaftler Joseph Daher sagte »nd.dieWoche«: »Zwischen 2010 und 2016 hatte nur ein Drittel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter einen Arbeitsplatz, die Arbeitslosigkeit der unter 35-Jährigen lag bei 37 Prozent. Zwischen 40 und 50 Prozent der libanesischen Einwohner hatten keinen Zugang zu Sozialhilfe.« Gleichzeitig seien die Reichen reicher geworden: »Zwischen 2005 und 2014 kassierten die reichsten zehn Prozent durchschnittlich 56 Prozent des Nationaleinkommens.«
Während Preise, etwa für Lebensmittel, steigen, wird seit 2019 der US-Dollar auf dem Schwarzmarkt zum sechsfachen des offiziellen Kurses in Lira gewechselt. Leidtragende sind alle, die keinen Zugang zu Devisen haben. Dazu muss man wissen, das der Dollar und das libanesische Pfund jahrzehntelang parallel legale Zahlungsmittel im Libanon waren. Man konnte im Restaurant mit einem Dollarschein bezahlen und bekam Lira zurück. Der Umtauschkurs war stets gleich: 1500 Lira pro US-Dollar. Seit Ende 2019 aber hat sich die Nachfrage nach US-Dollar dramatisch erhöht. Da der Libanon stark von Importen abhängig ist, die mit Devisen bezahlt werden müssen, steigt die Nachfrage und somit die Inflation. Die Zentralbank hält trotzdem am Kurs von 1500 Lira pro Dollar fest.
Faktisch bedeutet dies: Wer Zugang zu Devisen hat, für den ist alles viel billiger geworden. Während also ein Großteil der Bevölkerung ärmer wird, profitieren die Reichsten, und damit auch viele Politiker, von der Krise.
Die Hisbollah ist Teil des Systems
Die vor einem Jahr begonnenen Proteste haben schnell Wirkung gezeigt: Bereits Ende Oktober verkündete der damalige Premierminister Saad Hariri seinen Rücktritt. Doch Hariri gilt den Menschen auf der Straße ohnehin nur als »Kopf der Schlange«. Die Proteste gingen weiter und die Regierung versprach, ein sogenanntes Technokratenkabinett zu ernennen. Die Ministerposten sollten fortan von parteiunabhängigen Experten besetzt werden. Im Dezember wurde infolgedessen Hassan Diab vom Staatspräsidenten Michel Aoun zum Ministerpräsidenten ernannt. Doch obwohl Diab offiziell keiner politischen Partei angehört, verdankt der Ex-Bildungsminister ein Großteil seiner Karriere der schiitischen Organisation Hisbollah, die mit einem politischen und militärischen Flügel einer der mächtigsten Akteure im Land ist. Nach und nach entpuppten sich auch die von ihm ernannten Minister als kaum politisch unabhängig. Bauminister Michel Najjar etwa machte kein Geheimnis daraus, wo seine Loyalitäten liegen. In seiner ersten Rede dankte er seinem Financier Sleiman Frangieh, dem Vorsitzenden einer pro-syrischen christlichen Partei, dafür, dass er ihn während der Regierungsbildungsgespräche nominiert hatte.
Bald wurde klar, dass die Protestbewegung ihr Ziel nicht erreicht hat. Die mächtigen Parteien versuchten durch ein Scheinparlament, die eigenen Interessen und die Missstände zu bewahren, von denen sie selbst profitieren. Während Organisationen wie die Hisbollah früher eher an einer Zerschlagung der staatlichen Ordnung interessiert waren, sind sie heute, so der Experte Daher, ein fester Bestandteil des »kapitalistischen und konfessionsgebundenen Systems im Libanon«. Die Hisbollah etwa kooperiere »mit wichtigen Familien, Stämmen und bürgerlichen Clans«. In vielerlei Hinsicht stärke sie »die bestehende Ordnung, nämlich ein System, das mehr auf primären Identitäten - Familie, Sekte, politische Partei - als auf sozialen Rechten beruht«. Deshalb habe sie wie auch die anderen Parteien letztlich vor allem zum Ziel, das »konfessionsgebundene und neoliberale System« zu erhalten.
Als Anfang des Jahres wegen der Coronapandemie ein mehrmonatiger Lockdown verhängt wurde, verloren viele Menschen nicht nur ihren Job, sondern auch die Möglichkeit, auf der Straße ihre Unzufriedenheit auszudrücken. Die Bewegung verlor an Kraft, die sie auch nach der Aufhebung der Ausgangssperre nicht wieder erlangte. Doch es kam noch schlimmer: Am 4. August explodierten circa 2800 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut. Die gigantische Druckwelle zerstörte gesamte Stadtviertel, über 200 000 Menschen wurden obdachlos. Trotz aller Spekulationen entpuppte sich die Explosion als Unfall - den man leicht hätte vermeiden können. Denn das hochexplosive Material wurde seit Jahren ungesichert im Hafen gelagert, Warnungen von Behörden wurden ignoriert.
Nach der Explosion
Für Miriam Younes, Leiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Beirut, ist die Explosion vom 4. August »ein trauriger Höhepunkt«. Obwohl spontane Massenproteste den Rücktritt des Ministerpräsidenten Hassan Diabs in nur sechs Tagen erzwangen, macht sich unter den Demonstranten die Erkenntnis breit, »dass sich trotz so vieler Proteste politisch sowie wirtschaftlich gar nichts zum Guten gewendet hat - im Gegenteil.«. Das zeige auch der unterschiedliche Wiederaufbau nach der Explosion. »Viele Menschen haben ihre Häuser mittlerweile repariert, aber eben ohne staatliche Unterstützung, die es nicht gab. Das konnten also nur diejenigen tun, die es sich leisten konnten. In den ärmsten Viertel sind die Häuser noch in genau dem gleichen Zustand wie direkt nach der Explosion.«
Laut Younes kommt es seit einer Woche auch zu Versorgungsengpässen bei einfachen medizinischen Gütern wie Paracetamol. Proteste gibt es auch dagegen, aber kaum in der Größe wie vor einem Jahr. Trotzdem glaubt Younes: »Auch wenn die Protestbewegung heute nicht mehr so stark ist: Vieles von dem, was sie verändert hat, wird man erst in ein paar Jahren so richtig spüren. Denn sie hat eine ganze Generation über verschiedene Klassen und Konfessionen hinweg politisiert. Und diese Jugend ist nicht bereit, die Zustände, unter denen sie leiden, weiter zu tragen.«
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