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Wir hatten es doch schon geschafft!
Über die Annäherung von praktischer Solidarität und autoritärem Gemeinschaftsdenken in der zweiten Welle der Corona-Pandemie: ein besorgter Ausblick. Von Florian Schmid
Wo waren wir noch mal stehen geblieben in Sachen Selbst- und Weltbeschau in Zeiten von Covid, bevor uns »die Zahlen«, Putin und Trump einige Wochen des eher herkömmlichen Grusels bescherten? Wir hatten festgestellt, dass der Virus unsere inneren Landkarten umgekrempelt hatte. Nicht wenige selbst derer, die noch 2019 bei jeder Gelegenheit fleißig Emma Goldman zitierten - »wenn ich hier nicht tanzen kann, ist das nicht meine Revolution« -, rümpften plötzlich bundesweit die Nase, als Anfang Juni 2020 zwei- oder dreitausend Menschen mit Schlauchbooten und Musik »für die Clubkultur« auf einem Kreuzberger Kanal aufkreuzten, an dem sich eine Klinik befindet. Wie konnten Sie nur?
Plötzlich galt es als ausgemacht, dass die, die jetzt noch tanzen wollten, wohl eher auf Seiten der Konterrevolution standen. Gerade in der Linken wurde - auch vor dem Hintergrund der Hygienedemos - »Grundrechte« zu einem problematischen Wort. Wer es im Mund führte, machte sich verdächtig, eigentlich ein Recht der körperlich Stärkeren zu meinen; in sozialen und teils gedruckten Medien wurden »Hedonismus« und »Individualanarchismus« plötzlich zum Feindbild, an dem man sich abzuarbeiten hatte.
Als Startschuss zur zweiten Welle von Covid-19, die momentan offenbar anrollt, wird aber nicht die konkrete Feier im Gedächtnis bleiben, die im derzeit führenden Corona-Hotspot der Ausgangspunkt gewesen sein soll, nämlich im wohlanständigen Berchtesgadener Land. Sondern »das Feiern« im Moloch der Bundeshauptstadt, deren Zahlenzuwachs in der vorvergangenen Woche das Comeback von Corona als Topnachrichtenthema einläutete.
»In Berlin hat es sich jetzt ausgefeiert« - so oder ähnlich tönte es selbstzufrieden quer durchs Land, als die Stadt an der Spree eine - mittlerweile per Eilantrag für einige Kneipen abgeschaffte - Sperrstunde, ein nächtliches Alkoholverbot und nächtliche Kontaktbeschränkungen eingeführt hatte, die demnächst wohl auch wieder tagsüber gelten werden. Über Wochen hinweg wurden im Fernsehen und in sozialen Medien mit derselben Impertinenz, mit der man im Frühsommer schon die Kreuzberger Bootsparty vorgeführt hatte, die immer gleichen Bilder feiernder junger Menschen dicht gedrängt in Kneipen und in Trauben davor gezeigt.
Hier, so wurde kolportiert, lag einer der wichtigsten Gründe für die neuerlich rasante Ausbreitung des Virus. Die Empörung kreuzbraver Bürger, die in der Folge in den Herbstferien nicht mehr in den wohlverdienten Urlaub fahren durften, weil die Infektionszahlen die »magische« Marke von 50 pro 100 000 Einwohner überschritten hatten und in mehreren Bundesländern ein Beherbergungsverbot für Menschen aus Berlin und anderen Hotspots galt, wird noch immer gerne in Szene gesetzt und in Kurzinterviews und Umfragen abgerufen. Neben den »Neuköllner Großfamilien« werden junge Berliner als antiautoritäre Schmuddelkinder vorgeführt. Es ist eine Grundstimmung entstanden, die jedes vor einer Kneipe eingefangene Lächeln als höhnischen Kommentar für die Bemühungen anderer Menschen erscheinen lässt, etwas gegen das Virus zu tun. Mehr gleichsinnig als dagegen stand ein paternalistischer Diskurs, der »Verständnis für die Jugend« vorbringt und in Reportagen geläuterte junge Menschen vorführt, die jetzt verantwortungsvoll zu sein vorgeben.
Die tatsächliche und inszenierte Empörung machte eine eigenwillige Moral sichtbar, die sich an einer vermeintlichen Partygesinnung und hedonistischen Hingabe einer amorphen juvenilen Masse hochzieht, die irgendwo in einem grob als Berlin-Mitte bezeichneten Territorium ihr Unwesen treibt und mit hochmütiger Idiotie dem Virus abermals Tür und Tor geöffnet hat. Aber auch Kreuzberg und Neukölln als Adressen für sozial Randständiges sind fester Bestandteil dieses Furors. Natürlich, so dieser moralisierende Diskurs, ging es genau da wieder los, wo einst der linke Mob marodierte, wo die Hartz-IV-Empfänger leben, wo Jugendliche in clangeführten Shisha-Bars chillen und Brennpunktschüler ihre Lehrer terrorisieren. Die schlecht gelaunten, manchmal geradezu hasserfüllten Corona-Frust-Passanten in solchen Umfragen erinnerten an die Interviewtöne jener biederen Bundesrepublikaner, deren Tiraden auf langhaarige Hippies man jüngst mit Bezug auf 50 Jahre »68« wieder einmal im Fernsehen zu sehen bekommen hatte - abgesehen lediglich von den postnazistischen Mordfantasien, die damals immer wieder aufschienen.
»Wir hatten es doch fast geschafft, aber die konnten ja nicht die Füße stillhalten« - womöglich ist damit gefunden, was man im zweifelsfrei langen und hart kontaktbeschränkten Winter gut wird brauchen können: einen kollektiven Sündenbock. Mag Corona im März und April überwiegend als »Naturkatastrophe« wahrgenommen worden sein, droht Covid jetzt dauerhaft als Kulturproblem eingeordnet zu werden.
Was aber macht die kulturelle Schublade aus, die so viele Kommentatoren unter Neukölln-Corona-Texten in sozialen Medien nun am liebsten fest abgeschlossen sähen? Der Widerwille richtet sich nicht nur gegen einen »frei gewählten« Lebensstil, sondern betrifft dabei eine tiefer liegende Transformation des Kapitalismus: Das vorgestellte und teils ja auch reale Milieu, gegen das sich die Aversionen richten, ist die hochgradig ökonomisierte Version dessen, was der Soziologe Gerhard Schulze schon 1992 »Erlebnisgesellschaft« nannte. Die Sensationen der mythischen Technoclubs der 1990er Jahre haben sich nicht nur zu einem Kern der Berliner Stadtmarke verdichtet, sondern auch eine Veranstaltungsindustrie entstehen lassen, die einen nicht unerheblichen Anteil der Berliner Wirtschaft ausmacht und jede Menge kulturelles Kapital erzeugt: ganz unmittelbar im Städtetourismus und indirekt durch stadträumliche Prozesse der »Aufwertung«, die wiederum darauf aufsetzen, dass jene Stadtmarke ein junges, »urbanes« Publikum anzieht, das idealtypisch »irgendwas mit Marken« macht, also Waren mit jenen »Erlebnissen« vielbeschworener »Hipness« auflädt, die diese Stadt offeriert.
Schwingt im pandemieverstärkten Groll auf das Berliner Feiervolk auch ein Ressentiment traditionellen Facharbeiter-, Bürger und Kleinbürgertums gegen solche Milieus mit, deren Praktiken Andreas Reckwitz als eine »ästhetische Wirtschaft« beschrieben hat? Jene vermeintlich großspurigen Nichtsnutze, die nichts »Lebensnotwendiges« herstellen, sondern - in Reckwitz’ Worten - gefühlte Novität, also nicht-stoffliche Qualitäten produzieren? In den Augen des für seine Zeitdiagnosen prominent gewordenen Kultursoziologen verkörpert jene innenstädtische, sorgsam selbstkuratierte Erlebniswirtschaftspopulation am sichtbarsten einen säkularen gesellschaftlichen Trend, den er als Verlust »des Allgemeinen« in der postmodernen Ordnung problematisiert. Unter dem Eindruck einer kollektiven Bedrohung drängt nun jenes »Allgemeine« zurück. Offen ist aber, ob als solidarischer Impetus, der im Blick auf ein Ergebnis alle mitzunehmen verspricht, oder als autoritäres Gemeinschaftsdenken, das sich auf die »Schuldfrage« bezieht und das Besondere - die schwarzen Schafe - nach einem vermeintlichen Verursacherprinzip überwachen und strafen will.
Die Übergänge zwischen Vorstellungen von praktischer Solidarität und autoritärer Gemeinschaft sind nicht minder fließend als jene zwischen Freiheitsliebe und dem Recht des Stärkeren - und hierzulande gibt es in beiden Fällen eine starke negative Tradition. Wer immer sich in den kommenden Wochen oder Monaten dabei ertappt, sich nicht über Internetpostings aufzuregen, die angebliche oder tatsächliche Quarantänebrecher auf frischer Tat ertappen, der tut gut daran, sich des Messers Schneide zu vergegenwärtigen, auf der sich diese Wut gegenüber den vermeintlichen Sündenböcken bewegt. Eine Gretchenfrage in dieser Sache wurde jüngst schon verschiedentlich gestellt: Ob es »okay« sei, die Polizei zu rufen, wenn man den Eindruck hat, dass in des Nachbars Wohnung Regeln gebrochen werden? Die Tendenz in »Spiegel« oder »Berliner Zeitung« ging dabei zu einem Ja.
Dass 2020 einmal als »Epochenbruch« erinnert werden wird, mag vielleicht zu hoch gegriffen sein. Doch werden nicht nur die ökonomischen Effekte dieses annus horribilis noch lange nachwirken, sondern auch die mentalen Sedimente der Art und Weise, in der die Gesellschaft mit dieser Herausforderung umgeht. Im günstigen Fall könnte »Selbstverantwortung« neu gerahmt werden, nämlich - anders als im Neoliberalismus - mit dem Blick auf das Wohl wirklich aller statt nur seiner selbst. In der negativen Variante hingegen könnte der Verantwortungsbegriff zu einem kollektiv verinnerlichten Volkskörperdenken werden, das dann auch für ein Danach nichts Gutes verheißt. In diesem Sinne wird die Pandemie genau das sein, was wir alle daraus machen.
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