Die Ignoranz der Nachkriegsgesellschaft

  • Fabian Goldmann
  • Lesedauer: 9 Min.

Abgerissen und wiederaufgebaut

Bodenfelde und Göttingen, Niedersachsen
Antisemitische Parolen schreiend und mit Benzinkanistern in der Hand sollen die Männer der SA am Morgen des 10. November 1938 bereits im Garten der Synagoge gestanden haben. Dass der kleine Fachwerkbau im niedersächsischen Bodenfelde die Pogromnacht überstand, ist der Überzeugungskraft eines Anwohners zu verdanken. Und der Angst, ein Brand in der dicht bebauten Straße könnte auf die Nachbargebäude übergreifen.

Die Rettung bedeutete dies für die Synagoge allerdings nicht. Ihr Niedergang begann nach Kriegsende: Der neue Eigentümer ließ Fenster zumauern, Treppen und Empore abreißen. Ein Holztor – breit genug für einen Traktor – ersetzte die Eingangstür. Wand- und Deckenmalereien erledigte die einziehende Feuchtigkeit. Das im Jahr 1825 errichtete Zentrum von Bodenfeldes jüdischer Gemeinde endete als heruntergekommene Scheune.

In den 1980er Jahren entdeckte der Lehrer Detlev Herbst mit seinen Schülern den völlig maroden Fachwerkbau. Für sein Buch »Jüdisches Leben im Solling« rekonstruierte Herbst die Geschichte der jüdischen Gemeinde Bodenfelde, die ihre kleine Fachwerksynagoge bereits vor den Novemberpogromen verlassen musste. Ein Schuhmacher nutzte das Gebäude als Werkstatt, als die letzten Bodenfelder Juden 1937 nach Palästina migrierten.
Das Engagement von Detlev Herbst sorgte nicht nur dafür, dass die Geschichte der Synagoge bewahrt wurde, seiner Arbeit ist es auch zu verdanken, dass in der ehemaligen Schuhwerkstatt heute wieder Juden beten. Die jüdische Gemeinde Göttingens, Anfang der 1990er Jahre wiederbelebt, ließ das heruntergekommene Haus im Jahr 2006 abbauen, aufwendig renovieren und 30 Kilometer entfernt wieder aufbauen.

Genau 70 Jahre nachdem die SA-Männer mit Benzinkanistern vor ihr aufgetaucht waren, wurde die Bodenfelder Synagoge am 9. November 2008 zum zweiten Mal eingeweiht: Nun als Synagoge der 200 Personen starken jüdischen Gemeinde Göttingens.

Von der Synagoge zur Lagerhalle

Gudensberg, Hessen
Rund 300 Mitglieder hatte die jüdische Gemeinde Gudensberg Anfang des 20. Jahrhunderts. 280 Menschen fanden in der 1843 eingeweihten Synagoge Platz. Doch schon 1938 war vom jüdischen Gemeindeleben in der nordhessischen Kleinstadt nichts mehr übrig. Infolge der Verfolgung durch die Nationalsozialisten hatten die letzten Jüdinnen und Juden die Stadt bereits vor der Pogromnacht verlassen. Das Synagogengebäude ging für 3000 Reichsmark an einen örtlichen Bäcker. So überstand das Gebäude den Terror der Nazis, nicht aber die Bauwut nach dem Krieg.

Unter dem neuen Besitzer verschwand schnell alles, was irgendwie an die jüdische Geschichte des Gebäudes erinnerte: Die Frauenempore wurde abgerissen, neue Zwischendecken eingezogen und ein Lasteneinzug eingebaut. Die Rückwand des Gebäudes wurde eingerissen, um Platz für ein Garagentor zu machen. Der jüdische Sakralbau wurde erst zur Garage und Lagerhalle umgebaut und dann dem Verfall überlassen. Die Vernichtung jüdischer Hinterlassenschaften war in diesem und in vielen anderen Fällen kein Kollateralschaden der Umbauarbeiten, sondern durchaus beabsichtigt. Bei Umbauarbeiten sei »hauptsächlich auf eine schnelle Beseitigung jeglicher baulicher Merkmale des einst jüdischen Kultbaus Wert gelegt worden, wobei die neue Nutzung des Gebäudes zweitrangig war«, schreibt die jüdische Architektin Thea Altaras, die die Geschichte von Hunderten zerstörten und umgebauten Synagogen rekonstruiert hat.

Und noch etwas eint viele Synagogenschicksale nach 1945: Die Rekonstruktion umgebauter und verfallener Gebäude ist oftmals dem Engagement von Einzelpersonen zu verdanken. In Gudensberg gründete sich Ende der 1980er Jahre ein Arbeitskreis mit dem Ziel, die ehemalige Synagoge für die Zukunft zu erhalten. Mit Erfolg: Bis 1995 wurde das Gebäude umfassend renoviert. Seitdem wird es für kulturelle Zwecke genutzt und beherbergt unter anderem eine Dauerausstellung zur jüdischen Geschichte der Stadt.

Einmalige jüdische Geschichte

Berkach, Thüringen
Der thüringische Ort Berkach nahe der bayrischen Grenze dürfte selbst den meisten Bewohnern Südthüringens kein Begriff sein. Dabei hat das 400-Einwohner-Dörfchen Einmaliges zu bieten: Es ist der einzige Ort in Thüringen, in dem die vier typischen Kultstätten einer jüdischen Gemeinde erhalten geblieben sind: Synagoge, Schulhaus, Mikwe (Ritualbad) und Friedhof.

Wie im Fall vieler Landsynagogen in Deutschland rettete wohl die abgeschottete Lage sowie der Umstand, dass die meisten Juden und Jüdinnen die Gegend bereits Jahre zuvor verlassen hatten, die Gebäude vor der Zerstörung durch die Nationalsozialisten. Bis zur Wiederentdeckung der zwangsverlassenen Gebäude sollte es allerdings noch einige Jahrzehnte dauern. Die Mikwe wurde nach dem Krieg zum Gartenhaus. Aus dem einstigen jüdischen Schulgebäude wurde ein Wohnhaus. Die Synagoge diente erst als Pferdestall und später als Lager und Schmiede der örtlichen LPG. Die jüdische Geschichte des Ortes geriet in Vergessenheit.

Dass die Vergangenheit früherer jüdischer Gemeinden in Thüringen heute wieder einen Platz in Gedenkpolitik und öffentlichem Bewusstsein hat, ist Menschen wie Israel Schwierz zu verdanken. Der frühere Leiter der jüdischen US-Militärgemeinde in Würzburg hat die Geschichte von 61 jüdischen Gemeinden in Thüringen rekonstruiert. In seiner Dokumentation »Zeugnisse jüdischer Vergangenheit in Thüringen« schreibt er: »Die Suche nach Zeugnissen jüdischer Vergangenheit kann, trotz teilweiser Zerstörung und Vernichtung von Synagogen und all der anderen Spuren jüdischen Lebens und fast vollständiger Ausrottung der gesamten jüdischen Bevölkerung Thüringens bis zum heutigen Tage noch recht erfolgreich sein.«

Und teils kann sogar die Rekonstruktion einstiger Orte jüdischen Gemeindelebens erfolgreich sein. Im südthüringischen Berkach ging die frühere Synagoge 1990 in kommunalen Besitz über und wurde in Kooperation mit der Jüdischen Landesgemeinde Thüringens von Grund auf restauriert. Auch Mikwe und jüdischer Friedhof wurden Anfang der 90er wiederhergestellt, sodass in dem 400-Einwohner-Dorf heute gelegentlich wieder jüdische Gottesdienste stattfinden.

Ein Sakralbau als HJ-Heim

Esslingen am Neckar, Baden-Württemberg
Ausgerechnet als Heim für Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädel überstand die Synagoge im baden-württembergischen Esslingen den Zweiten Weltkrieg. Die einst rund 160 Mitglieder umfassende jüdische Gemeinde der Stadt waren da längst Geschichte. Im Novemberpogrom von 1938 waren in einer von der örtlichen NSDAP initiierten Kundgebung »gegen die Juden« Hunderte Bürger und Bürgerinnen vor die Synagogen gezogen. Nach 1945 wurde das Gebäude zunächst vom US-Militär konfisziert und diente kurzzeitig erneut als Gebetsstätte, bis Synagoge und Friedhof für 35 000 Mark an die Stadt übergingen.

Zustande gekommen war der Verkauf im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens mit der »Jewish Restitution Successor Organization«. Die in New York ansässige Organisation kümmerte sich überall in der amerikanischen Besatzungszone darum, dass die Eigentumsverhältnisse von unter den Nazis enteignetem oder zu Spottpreisen verkauftem jüdischen Besitz neu ausgehandelt wurden. Die Gewinne gingen an die früheren jüdischen Eigentümer, deren Rechtsnachfolger oder jüdische Organisationen in den USA und Israel. Der Schlichtungsspruch beinhaltet damals auch eine Festlegung, die Jahrzehnte später noch Folgen haben sollte: »Falls sich in Esslingen eine jüdische Gemeinde bilden sollte, wird die Stadtgemeinde Esslingen ihr Möglichstes tun, um ihr einen Raum zur Abhaltung der Gottesdienste nachzuweisen.«

Zunächst aber folgten Jahrzehnte, in dem die jüdischen Kultbauten für alles Mögliche genutzt wurden: Aus der Schule wurde ein Wohnhaus, in der Mikwe richtete sich jemand sein Gartenhäuschen ein und in die Synagoge zogen mal ein Kindergarten, mal ein Jugendzentrum und mal eine Galerie ein. Erst als Anfang der 90er der Zuzug von Jüdinnen und Juden aus GUS-Ländern zunahm, rückte die Idee, die Bauten wieder für ihren ursprünglichen Zweck zu nutzen, zurück auf die politische Agenda. Es dauerte allerdings noch bis zum Jahr 2011, bis in Esslingen mit rund 250 Mitgliedern wieder eine jüdische Gemeinde entstand. Ein Jahr später wurde Esslingens Synagoge ein zweites Mal eingeweiht.

Die letzte fortbestehende Synagoge

Lübeck, Schleswig-Holstein
Nur eine einzige Synagoge Schleswig-Holsteins hatte den Terror der Nazis überstanden. Und mit dem im »maurischen« Stil gebauten Kuppelbau in Lübeck war es auch eine der schönsten jüdischen Sakralbauten des Landes. In der Pogromnacht von 1938 wurde sie zwar geschändet, der Zerstörung entging das 1880 eingeweihte Gebäude aber – vermutlich, weil es bereits zuvor in den Besitz der Stadt übergegangen war oder die Brandgefahr für ein naheliegendes Museum zu groß eingeschätzt wurde. Unbeschadet überstand sie die Nazizeit allerdings nicht: Die Inneneinrichtung wurde verwüstet, sämtliche orientalischen Elemente des Baus entfernt. Was blieb, war ein schlichter Backsteinbau, der als Turnhalle Verwendung fand.

Nach 1945 wurde das Gebäude zunächst wieder als Synagoge genutzt. Nur drei Wochen nach Kriegsende feierten die verbliebenen 250 Mitglieder der jüdischen Gemeinde Lübecks am 1. Juni 1945 wieder einen Gottesdienst. Doch nachdem die meisten von ihnen in den folgenden Jahren in Richtung Israel auswanderten, geriet Lübecks Synagoge erneut in Vergessenheit.

Den Tiefpunkt seiner Geschichte sollte die Lübecker Synagoge Mitte der 90er erleben. Worauf die Nazis 1938 noch verzichtet hatten, versuchten Neonazis gleich zweimal: Vier später zu Freiheitsstrafen verurteilte Täter warfen Molotowcocktails auf das Gebäude. Ein Brand am 25. März 1994 zerstörte den Vorraum der Synagoge. Der erste Brandanschlag auf eine Synagoge in Deutschland nach 1945 sorgte für weltweites Entsetzen. Ein Jahr später folgte der nächste Schock: Bei einem Anschlag in der Nacht auf den 8. Mai 1995 brannte ein angrenzender Schuppen völlig aus.

Die 90er brachten aber auch die Wiederbelebung der jüdischen Gemeinde Lübecks – und mit ihr der Synagoge. Durch Zuwanderung aus Osteuropa stieg die Gemeindegröße auf über 600 Personen. Nach umfangeichen Renovierungsarbeiten eröffnete die Lübecker Synagoge im Juli dieses Jahres.

Von Schülern gerettet

Ahrweiler, Rheinland-Pfalz
Weder offizieller Gedenkpolitik, noch behördlichem Denkmalschutz verdankt das Synagogengebäude im rheinland-pfälzischen Ahrweiler seine Existenz. Eine Gruppe Schüler und Schülerinnen war es, die 1976 Druck auf die Stadtverwaltung ausübte, das nach dem Krieg verfallene Gebäude und dessen jüdische Geschichte vor dem Verfall zu bewahren.

Begonnen hatte die Geschichte der kleinen Synagoge im Jahr 1894. Nachdem der alte Betsaal der Gemeinde zu klein geworden war, brachte ein Neubau mit Fenstern im »maurischen« Stil ein bisschen Orient-Flair in den kleinen Ort. Die Novemberpogrome von 1938 überlebte das Gebäude schwer verwüstet. Männer der SA schlugen Fenster ein und zerstörten die Einrichtung. Kultgegenstände, Bücher und Teppiche wurden nach draußen gebracht und dort verbrannt.

Wie vielerorts zu jener Zeit wurde auch die jüdische Gemeinde Ahrweilers gezwungen, das Gebäude zu einem Spottpreis zu verkaufen. Ein lokaler Hotelier ließ es jahrelang leerstehen. Nach dem Krieg diente das Haus kurzzeitig noch einmal als Synagoge: Amerikanische Soldaten kamen gemeinsam mit einem Militärrabbiner zum Gottesdienst in dem Gebäude zusammen.

1955 übernahm die örtliche Raiffeisenkasse die Synagoge und richtete dort Warenlager für Düngemittel, Feld-, Winzer- und Gartengeräte ein. Der langsame Verfall begann.
Dieser endete erst mit dem Engagement besagter Gruppe Jugendlicher. Frisch von einer Israelreise zurückgekehrt, drängte diese 1976 auf einem würdigen Umgang mit dem Gebäude. Mit Erfolg: Am 9. November 1978, genau 40 Jahre nach der Pogromnacht, gründeten Ahrweiler und Ahrweilerinnen den »Bürgerverein Synagoge e.V.«. Nach umfassenden Renovierungen beinhaltet die ehemalige Synagoge seit 1990 eine kleine Bibliothek und eine Dauerausstellung zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Ahrweilers.

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