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Hungersnot im reichen Land

Die Corona-Pandemie hat Millionen US-Amerikaner in die Armut gestürzt.

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Vor der Calvary Baptist Church in East Orange herrscht reger Andrang. Bereits um 9 Uhr morgens misst die Autoschlange vor der Kirche in Essex County mehrere hundert Meter. Schon zwei Blocks vor dem Gebäude werden Autos mit LED-Anzeigen und orangefarbenen Gummizylindern auf den Kirchenparkplatz geschleust. Was die Menschen hierher lockt, ist nicht die Aussicht auf Trost oder Seelenfrieden. Sondern auf Essen. »Es kommen Leute her, die noch nie Hilfe gebraucht haben«, sagt Joseph DiVincenzo, während er ein Auto nach dem anderen auf den Parkplatz winkt.

DiVicenzo ist Verwaltungschef von Essex County und hat selbst schon eine Coronavirus-Infektion durchgemacht. Mit vier Dutzend Mitarbeitern der Landkreisverwaltung leitet er die Bedürftigen in einem ausgeklügelten System zur Ausgabe der Lebensmittelpakete. Die Anwärter müssen in ihren Autos auf der rechten Fahrspur warten, auf dem Kirchenparkplatz wird dann in zwei Reihen vorgefahren, Schilder verkünden zwei einfache Anweisungen: »Kofferraum aufmachen, Fenster oben lassen«. Die Landkreis-Mitarbeiter mit bunten Masken tragen dann einen der 16 Kilogramm schweren Pappkartons mit Lebensmitteln zum Kofferraum und schließen ihn wieder, das Auto fährt weiter und verlässt auf der anderen Seite den Parkplatz. Seit 25 Wochen läuft die Verteilung, und ein Ende ist vorerst nicht abzusehen. »Wir werden solange weitermachen, wie es Bedarf gibt«, sagt DiVincenzo, »mindestens bis zum Ende des Jahres oder bis März.«

Max und Moritz
Max Böhnel und Moritz Wichmann analysieren jede Woche im Chat mit Oliver Kern den US-Wahlkampf. Diesmal ist Max dran. Der US-Korrespondent des »nd« und mehrerer Radiosender in Deutschland, Österreich und der Schweiz lebt seit 1998 in New York.

Auf dem Trockenen

Jede der Lebensmittel-Boxen enthält 40 Mahlzeiten, 1000 Boxen werden an diesem Tag ausgegeben, nach anderthalb Stunden sind alle weg. Bezahlt wird das durch Mittel aus der im März vom US-Kongress beschlossenen Corona-Nothilfe, dem Cares-Act. Doch diese Geldquelle trocknet langsam aus. Seit Monaten blockieren die Republikaner im US-Senat die Verabschiedung weiterer Hilfen in der Coronakrise und wollen nur minimale Hilfe gewähren.

Von der Calvary Baptist Church ist Washington weit weg, es geht um konkrete Probleme. Die Lebensmittelausgabe per Drive-Thru - einzelne Menschen kommen auch zu Fuß vorbei - erfüllt alle Vorgaben des Social Distancing. Wichtig auch: Es werden keine Fragen gestellt. Hilfe von anderen anzunehmen, auch vom Sozialstaat, ist schambesetzt, gerade in den USA.

Hyacinth ist zu Fuß vorbeigekommen. Die Lehrerin war eigentlich schon im Ruhestand. Da ihre Rente jedoch nicht reichte, arbeitete sie bis vor Kurzem noch als Hilfslehrerin. Doch in der Corona-Pandemie Fernunterricht zu geben, wurde ihr als Assistenzkraft nicht erlaubt - sie verlor ihren Job. Nun bekommt sie ein bisschen Sozialhilfe und dazu etwas Arbeitslosengeld. Doch auch das ist »wenig«, sagt die schwarze Frau, und zudem nicht sicher. Denn in wenigen Wochen läuft ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld aus. Diese Unterstützung gibt es in den USA in vielen Staaten nur für 26 Wochen. Der Cares-Act ermöglichte es den Staaten, dies um 13 Wochen zu verlängern. Wie es danach weitergeht? »Ich weiß es wirklich nicht«, sagt sie, während sie mit ihrem Lebensmittelpaket auf eine Mitfahrgelegenheit wartet. Hyacinth ist nicht allein. Mehr als 350 000 Corona-Arbeitslose in den USA hatten bereits Mitte Oktober ihre 13-wöchige Verlängerung ausgereizt. Ende Dezember läuft das Programm aus, dann könnten 13 Millionen Corona-Arbeitslose komplett ohne Arbeitslosengeld ihrer Bundesstaaten oder des Bundes dastehen, wenn die Bezugsdauer nicht verlängert wird oder neue Hilfen im US-Kongress beschlossen werden.

Vor dem Fall in die Armut ist derzeit niemand gefeit, »jeder von uns könnte in dieser Situation sein«, sagt DiVincenzo. Sein Landkreis sei »sehr divers«, er umfasse das städtische und eher schwarze und arme Newark und East Orange mit den ärmlichen Holzhäusern in engen Reihen, von denen die Farbe abblättert, bis zu wohlhabenden, mehr von weißen Amerikanern bewohnten Vororten mit villenartigen Häusern und stattlichen Auffahrten. »Arme wie auch eher Wohlhabende sind von der Krise betroffen«, sagt er. Tatsächlich sehen einige vor der Kirche vorgefahrene Autos nicht ärmlich aus. Laut Umfragedaten zur Coronakrise in den USA sind es allerdings - anders als bei der Finanzkrise 2008 - dieses Mal weniger weiße Arbeiter, sondern eher Latinos, Schwarze und Frauen, die ihre Jobs verlieren.

»Betroffen sind hier in der Gegend vor allem Leute, die im Einzelhandel arbeiten, viele kleine Unternehmen müssen schließen«, erzählt DiVincenzos Kollegin Cinda Williams, während sie Autos zur Abholstelle winkt. Normalerweise berät sie für den Landkreis Menschen auf Arbeitssuche. Nun packt sie bei der Kistenvergabe mit an.

Schon vor der Coronakrise gab es viel soziale Not in den USA. 34 Millionen Menschen lebten unter der Armutsschwelle. In den letzten Monaten sind laut Berechnungen von Forschern der Columbia University noch einmal acht Millionen Menschen dazugekommen - zum größten Teil seit dem Auslaufen des Extra-Coronakrisen-Arbeitslosengeldes des Bundes Ende Juli.

Sie brauchen nicht nur Lebensmittel. Es fehlt sogar an Geld für die Beerdigungen verstorbener Angehöriger, so Williams. Und mit dem nahenden Winter werde die Abschaltung von Strom und Heizung wegen unbezahlter Rechnungen und die Beschaffung warmer Kleidung zum Problem werden. Zudem »müssen die Leute entscheiden, ob sie die Miete bezahlen oder Geld für Essen ausgeben«, sagt sie. Wer die Miete nicht begleicht, landet schnell auf der Straße - oder im nahe gelegenen Isaiah House, einem Obdachlosen-Shelter mit Lebensmittel-Tafel. »Als die 600 Dollar Extra-Arbeitslosengeld Ende Juli weggefallen sind, haben sich plötzlich deutlich mehr Leute gemeldet, die ihre Mieten nicht mehr bezahlen können«, erzählt Mitarbeiterin Julia Hismeh.

Keine Hoffnung auf Biden

»Arme wie auch eher Wohlhabende sind von der Krise betroffen. 
Jeder von uns könnte in dieser Situation sein.« Joseph DiVicenzo, Verwaltungschef von Essex County
»Arme wie auch eher Wohlhabende sind von der Krise betroffen. 
Jeder von uns könnte in dieser Situation sein.« Joseph DiVicenzo, Verwaltungschef von Essex County

Das Isaiah House bietet schon seit 25 Jahren eine Tafel an. In der Coronakrise ist der Bedarf aber doppelt so hoch. »In den ersten beiden Pandemie-Monaten hatten wir hier teilweise 600 Leute, die auf Essen gewartet haben, und Schlangen um den Block«, erzählt Tafel-Chefin Latoya Anderson.

Wie bei der Calvary Baptist Church, so werden auch hier den Bedürftigen keine weiteren Fragen gestellt. Anderson will sie nicht verschrecken mit Auflagen, wie sie andere Einrichtungen vorschreiben. Die sind für viele marginalisierte Menschen nämlich kaum zu erfüllen, zum Beispiel das Vorzeigen einer Social Security Nummer oder einer Geburtsurkunde. Was Anderson verteilt, soll »nur Zusatzhilfe sein, die Menschen haben ja auch Anspruch auf Lebensmittelmarken«, betont sie mit Verweis auf das entsprechende staatliche Programm.

Neben Lebensmittel-Tafeln und Sozialeinrichtungen wie dem Isaiah House sind überall im Land außerdem Gruppen entstanden, die Hilfe auf Gegenseitigkeit anbieten. Darin engagieren sich sowohl Bürger, die in Facebook-Gruppen aktiv sind, als auch linke Aktivisten wie Jeff. Er ist Mitglied der Gruppe Democratic Socialists of America im Norden von New Jersey. Mit anderen Freiwilligen boten die DSA-Aktivisten schon vor der Pandemie Lebensmittelhilfe in einem Stadtviertel von Newark mit hoher Obdachlosigkeit an. Zu Beginn der Pandemie wurde dies aus Infektionsschutzgründen eingestellt, nun werden Bedürftige per Lieferung versorgt, rund 200 Mal bisher.

In die Präsidentenwahlen Anfang November setzt Jeff keine Hoffnungen. »Die Not im Land wird sich nicht ändern, nur weil wir vielleicht bald einen anderen Präsidenten haben«, sagt er mit Verweis auf einen möglichen Wahlsieg von Joe Biden von der Demokratischen Partei. Mit der steigenden Zahl der Corona-Infektionen werde man mit neuen Einschränkungen oder gar einem erneuten Lockdown »bald wieder da sein, wo wir im April waren. Aber dieses Mal sind wir besser vorbereitet, können mehr Lieferungen verteilen, haben mehr Geld gesammelt.«

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