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»Lasst euch von diesem Moment radikalisieren«

Der Streit um die Nominierung einer Konservativen am Obersten Gerichtshof heizt auch den Senatswahlkampf an. Die Demokraten hoffen, dort die Mehrheit zu gewinnen

  • Moritz Wichmann, Buffalo, New York
  • Lesedauer: 8 Min.

Als die Nachricht vom Tod der liberalen Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg in bekannt wurde, begann der Spendenticker von ActBlue immer schneller zu laufen. Die digitale Spendenplattform hat sich in den letzten Jahren zum bevorzugten Vehikel für Graswurzelspender der US-Demokraten entwickelt. Mit wenigen Klicks können Wähler der Partei bequem von zu Hause aus ihre finanzielle Unterstützung für ihre Lieblingspolitiker ausdrücken – oder ihre Ablehnung ausdrücken, ihrer Wut Ausdruck verleihen und etwas gegen die eigene Ohnmacht tun. In diesem Fall war es eher Letzteres.

Die besorgte Basis, die schon monatelang auf das Ableben der zum Star der Frauenemanzipation hochstilisierten liberalen Ikone medial vorbereitet wurde, fürchtet das Ende legaler Schwangerschaftsabbrüche im Land und eine jahrzehntelange konservative Dominanz am obersten Gerichtshof. Erwartet wird, dass dieser das Land gesellschaftspolitisch zurückwirft oder progressive Demokraten-Gesetzgebung für ungültig erklärt. Weil die Demokraten im US-Senat in der Minderheit sind, können sie bei der Ernennung Amy Coney Barrett nicht verhindern, der Nachfolgerin von Ruth Bader Ginsburg. Also spendete die Basis der Partei, um den Demokraten zumindest ab Januar 2021 zu einer Mehrheit im US-Oberhaus zu verhelfen. Innerhalb von 24 Stunden nach Bekanntwerden des Todes von Ginsburg Ende September gingen 71 Millionen Dollar von 1,2 Millionen Spendern auf der Plattform ein – ein Großteil davon ging an Demokraten-Kandidaten für den Senat. Auch danach wurde weiter gespendet.

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Das Ergebnis: Die Demokraten in den 14 am meisten umkämpften Senatswahlen haben mit insgesamt rund 84 Millionen Dollar allein in den ersten beiden Oktoberwochen doppelt so viele Wahlkampfspenden eingesammelt wie die republikanischen Amtsinhaber. Denen kommen nun Großspender zumindest teilweise in letzter Minute zu Hilfe. Geld allein wird den Demokraten keine Senatswahlsiege einbringen, aber die vollen Wahlkampfkassen haben die Partei in die Offensive gebracht, in einigen eher konservativen Staaten können sie nun mit ihren Anzeigen die Fernsehbildschirme dominieren und so auch Wähler jenseits der Kernklientel zu erreichen.

Noch im Frühjahr hatten die Demokraten allenfalls Außenseiterchancen, die Mehrheit im Senat zu gewinnen. Ohne eine Mehrheit dort wären einem Präsidenten Joe Biden bei zahlreichen Vorhaben die Hände gebunden. Er könnte weder Corona-Hilfen durchsetzen noch Reformen im Gesundheitswesen oder in der Klimapolitik. Auch die Besetzung von Richterposten wäre ohne Zustimmung republikanischer Senatoren unmöglich. Zwar rechneten Beobachter den Demokraten Chancen aus, in den demografisch zu den Demokraten tendierenden Bundesstaaten Colorado und Arizona Wahlerfolge zu erzielen: Dort treten der beliebte ehemalige Gouverneur des Staates John Hickenlooper und der Ex-Astronaut Mark Kelly an. Und in Maine und North Carolina haben Sarah Gideon, die Demokraten-Sprecherin im Staatsparlament von Maine, und der Anwalt und Militärveteran Cal Cunningham gute Chancen, weil die eher moderaten Wechselwähler in den Swing States Trump ablehnen. Doch darüber hinaus sah es nicht gut aus für die Demokraten.

Der Grund: der strukturelle Vorteil für die Republikaner im Oberhaus. Jeder US-Bundesstaat stellt zwei Senatoren - der konservative 580 000 Einwohner-Staat Wyoming genauso wie der 39-Millionen-Staat Kalifornien. Da die Wähler der Grand Old Party sich vor allem in ländlichen und dünn besiedelten Gegenden finden, müssen die Demokraten landesweit mit sechs bis sieben Prozent Vorsprung gewinnen, um auch im Senat eine Mehrheit der Sitze zu erhalten.

In 35 Staaten finden in diesem Jahr Senatswahlen statt. Aktuell stellen die Republikaner 53, die Demokraten 47 Senatoren. Um die Mehrheit zu erreichen, müssen die Demokraten mindestens drei Sitze gewinnen - unter Annahme, dass sie auch die Präsidentschaft gewinnen: bei einem 50/50 Kräfteverhältnis gibt die Stimme des Vizepräsidenten den Ausschlag, also die mögliche Vizepräsidentin Kamala Harris.

Fast sicher ist, dass der Demokrat Doug Jones aus dem konservativen Alabama seinen Sitz verlieren wird. Er wurde 2018 in der Nachwahl für einen freigewordenen Sitz nur gewählt, weil es glaubwürdige Vorwürfe gegen den Kandidaten der Republikaner Roy Moore gab, Minderjährige sexuell belästigt zu haben. Der einzige andere Senator der Demokraten, den Analysten als »verwundbar« sehen, ist Gary Peters aus Michigan, der in den meisten Umfragen aber außerhalb der Fehlermarge vorne liegt.

Wegen des voraussichtlichen Sitzverlustes in Alabama müssen die Demokraten mindestens vier Sitze dazu gewinnen, damit ihre Agenda ab 2021 nicht durch Blockadepolitik der Republikaner im US-Oberhaus ausgebremst werden kann, wie es der republikanische Mehrheitsführer Mitch McConnell bereits ab 2010 mit der Obama-Regierung tat. Die demokratenfreundliche Stimmung in den Umfragen – Joe Biden führt derzeit mit rund neun Prozent im Umfagendurchschnitt – und der Spendenregen der Basis haben in den letzten Wochen sieben weitere Staaten offen gemacht.

Im Farmerstaat Iowa liegt die Demokraten-Kandidatin und Unternehmerin Theresa Greenfield in der Mehrheit der Umfragen vor Amtsinhaberin Joni Ernst. Die Republikanerin hat sich vor Kurzem blamiert, als sie auf Journalistennachfrage nicht den aktuellen Preis von Soja nennen konnte. Im eher konservativen Bergstaat Montana ist der populäre Demokraten-Gouverneur Steve Bullock, der Montana erfolgreich durch die Coronavirus-Pandemie gebracht hat, dem republikanischen Amtsinhaber dicht auf den Fersen, führt oder liegt je nach Umfrage innerhalb des Fehlerbereichs der Umfragen. In Georgia ist es möglich, dass der Demokraten Jon Ossof Amtsinhaber David Perdue in die Stichwahl zwingt. Auch der zweite Senatswahlsitz im Staat wird wegen einer Nachwahl neu vergeben. Pastor Raphael Warnock aus Atlanta könnte es in die Stichwahl schaffen, nachdem seine Kampagne in den letzten Wochen Fahrt aufgenommen hat.

In Alaska, das 2016 noch mit 15 Prozentpunkten Vorsprung Trump wählte, sitzt der Arzt Al Gross, der sich als unabhängiger bodenständiger Fischer inszeniert und als Parteiloser antritt, aber von den Demokraten unterstützt wird, dem republikanischen Amtsinhaber im Nacken. Im eigentlich ähnlich republikanischen Kansas zeigen einige Umfragen die zu den Demokraten übergelaufene Ärztin und ehemalige Staatssenatorin Barbara Bollier im Gleichstand oder sogar vor ihrem republikanischen Widersacher – die Demokraten haben im Präriestaat seit 1932 keine Senatswahl mehr gewonnen.

Im ebenfalls »tiefroten« South Carolina muss Republikaner-Senator Linsey Graham, der sich noch 2016 als Trump-Kritiker profilierte, aber nun zum treuen Unterstützer des Präsidenten gewandelt hat und als Vorsitzender des Justizausschusses im US-Senat die Bestätigung der neuen Supreme-Court-Richterin Barret eingefädelt hat, plötzlich um seine Wiederwahl kämpfen. Sein Herausforderer Jaime Harrison, ein ehemaliger Lobbyist und Ex-Demokraten-Vorsitzender im Staat, liegt plötzlich gleichauf und hat im 3. Quartal die Rekordsumme von 57 Millionen Dollar Wahlkampfspenden eingesammelt. Das ist soviel, das Harrison nicht nur die Fernsehbildschirme im Staat mit seinen Anzeigen dominieren kann, sondern auch eine Schattenkampagne zur Spaltung der Konservativen-Stimmen im Staat finanzieren kann. Denn auf dem Stimmzettel stehen zwei Konservative: Constitution Party-Kandidat Bill Bledsoe ist zu spät aus dem Rennen ausgestiegen. Sollte er drei bis vier Prozent der Stimmen erhalten, könnte er Graham gerade genug Stimmen wegnehmen, dass es für Harrison reicht.

»Lasst euch von diesem Moment radikalisieren«, forderte die populäre linke Demokraten-Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez die Anhänger ihrer Partei auf. In den Tagen nach dem Tod von Ginsburg popularisierten wütende linksliberale Intellektuelle Forderungen, die in den Vorjahren nur am linken Rand erhoben worden waren. Um den dauerhaften Republikaner-Vorteil im US-Senat zu brechen, sollte man, wenn man ab 2021 in der Mehrheit sei, Washington DC zum Staat machen - ein entsprechendes Gesetz ist bereits von den Demokraten im Repräsentantenhaus verabschiedet - und auch Puerto Rico in den US-Staatenbund aufnehmen. »Guam, wollt ihr auch rein?«, erklärte ein Demokraten-Stratege gegenüber dem Politblatt Politico mit Verweis auf die durch die USA besetzte Pazifikinsel und drückte damit die »alle Optionen liegen auf dem Tisch«-Stimmung aus. Auch wenn die Republikaner mit empörter Rhetorik gegenhalten: Für die Strategie gibt es mehrere Präzedenzfälle: Ende des 19. Jahrhunderts nahmen die Republikaner immer wieder neue Staaten in den US-Staatenbund auf, um die Machtverhältnisse im parlamentarischen Oberhaus zu ihren Gunsten zu verschieben.

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Eine weitere prominente Forderung, die in den letzten Wochen von empörten Demokraten auf den Tisch gelegt wurde, ist das Ende des »Filibuster«, die Mehrheitsregel von 60 Stimmen für die meisten Gesetzesprojekte. Die hat lange parlamentarische Tradition, ist aber nur eine Verfahrensregel, die geändert werden kann. Linke Kritiker sehen sie schon lange als Bremsklotz für gesellschaftlichen Fortschritt, weil sie große parlamentarische Mehrheiten erforderlich macht und wegen nötiger Zugeständnisse an Senatoren der anderen Partei Gesetzesprojekte verwässert oder gar unmöglich macht und so den Status quo erhält.

Nach Jahren republikanischer Blockade, dem Brechen von Normen und gnadenloser Machtpolitik der Republikaner während der Präsidentschaft von Barak Obama zeigen sich auch konservative Demokraten wie West Virginias Senator Joe Manchin oder Chris Coons aus Delaware offen für ein Ende der Regel. Am deutlichsten trat die Blockadehaltung der Republikaner zutage, als sie mit ihrer Senatsmehrheit die Ernennung des Supreme-Court-Richters Merrick Garland zu Ende der Obama-Präsidentschaft mit Verweis auf die nahe Wahl verweigerten, während sie nun noch knapper vor dem Urnengang eine neue Richterin im Senat bestätigen. Obama hat den Filibuster Ende Jul als »Relikt der Jim-Crow-Ära« bezeichnet – und das Wort des in der Partei immer noch bewunderten Ex-Präsidenten hat Gewicht in der Partei.

Für den Supreme-Court erwägen Strategen der Demokraten übrigens einfach die Zahl der Richter zu erhöhen. Auch dafür gibt es Präzedenzfälle: In mehreren Staaten haben die Republikaner in der Vergangenheit die Anzahl der Richter an den obersten Staatsgerichten verändert, um sich ihnen genehme Richtermehrheiten zu sichern.

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