»Wir wollen uns ja im Osten gesundstoßen«

Wie NS-Führung und Wehrmacht das Aushungern und die Ausplünderung der Sowjetunion geplant haben

  • Christian Streit
  • Lesedauer: 8 Min.

Hitler und die Generalität sahen die Ursachen für die Niederlage 1918 nicht in übersteigerten Kriegszielen, der Weigerung, einen Kompromissfrieden zu suchen, und Fehlentscheidungen der militärischen Führung. Sondern in einem »Zusammenbrechen der Heimatfront«, für das der Hunger infolge der englischen Seeblockade und sozialistische Agitation im Zuge der seit 1916 zunehmenden Streikbewegungen gegen den Krieg verantwortlich gemacht wurden. Einen »November 1918« sollte es nie wieder geben. Das sollte die rücksichtslose Ausbeutung der Nahrungsressourcen der eroberten sowjetischen Gebiete sicherstellen.

An der entsprechenden Planung waren in erster Linie drei Männer beteiligt: Hermann Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan, der Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Herbert Backe, und der Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes im Oberkommando der Wehrmacht, Georg Thomas, der die Ausbeutungsorganisation für den Osten, konzipierte, den Wirtschaftsstab Ost. Backe war die treibende Kraft. Thomas legte am 20. Februar 1941 Hitler eine Denkschrift über die wehrwirtschaftlichen Folgen eines Krieges gegen die UdSSR vor, zu der Backe Daten für den landwirtschaftlichen Bereich geliefert hatte. Durch eine »kleine Senkung« des Verbrauchs der Bevölkerung - »der Russe ist gewöhnt, seinen Verbrauch schlechten Ernten anzupassen« - könne man eine Beute von vier Millionen Tonnen Getreide erhalten, die ausreichen würde, den Zuschussbedarf im gesamten deutschen Machtbereich zu decken.

Christian Streit

Der Autor, Jahrgang 1942, studierte Geschichte und Anglistik und arbeitete als Gymnasiallehrer. Publizistisch befasst er sich seit Langem mit den Verbrechen der Wehrmacht. Der hier veröffentlichte Text ist eine gekürzte Passage aus dem Buch »Vernichtungskrieg im Osten«, das er kürzlich gemeinsam mit Hannes Heer im VSA-Verlag herausgegeben hat.

Streit untersucht in seinem Kapitel, wie die deutsche NS-Führung im Krieg gegen die Sowjetunion das Aushungern der Bevölkerung in den besetzten Gebieten als Waffe geplant und brutal praktiziert hat.

Hannes Heer, Christian Streit: Vernichtungskrieg im Osten. Judenmord, Kriegsgefangene und Hungerpolitik. VSA-Verlag Hamburg, 240 Seiten. 19,80 €

Über die Folgen dieser »kleinen Senkung« für die Betroffenen sagte die Studie nichts. Dass sich die Planer aber der Konsequenzen ihrer Pläne durchaus bewusst waren, zeigte sich in einer Besprechung von Staatssekretären der beteiligten Ministerien am 2. Mai 1941. In einer Notiz über die Ergebnisse hieß es: »Der Krieg ist nur weiterzuführen, wenn die gesamte Wehrmacht im dritten Kriegsjahr (1941/42) aus Russland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.«

Bis zum 23. Mai 1941 arbeiteten Agrarexperten Richtlinien für die Ausbeutung der Nahrungsressourcen des Ostens aus. Basis des Ganzen war das Ziel, »unter allen Umständen, selbst durch rücksichtsloseste Drosselung des russischen Eigenkonsums«, Überschüsse für Deutschland herauszuholen. Dies sei durch die räumliche Trennung der Überschussgebiete in der südlichen Schwarzerde-Zone und der Zuschussgebiete in der nördlichen Waldzone möglich. »Die Konsequenz ist die Nichtbelieferung der gesamten Waldzone einschließlich der wesentlichen Industriezentren Moskau und Petersburg.« Es gelte »die Struktur von 1909/13 oder sogar diejenige von 1900/1902 wiederherzustellen«.

Das bedeutete auch, dass die »gesamte Industrie im Zuschussgebiet«, auch die im Ural, aufgegeben werden müsse. Die »Zerstörung« dieser Industrien sei »auch für die fernere Friedenszukunft Deutschlands eine unbedingte Notwendigkeit«. Nach dem Modell des Zarenreichs müssten die Bauern im Süden gezwungen werden, ihre Produkte »bis auf ein Existenzminimum« zu verkaufen, um benötigte Gebrauchsgüter aus deutscher Produktion zu kaufen. Lediglich die wichtigen Rohstofflieferanten im Erdölgebiet Transkaukasien und die Schwerindustrie im Donezgebiet sollten erhalten bleiben.

Das hieß nichts anderes, als dass die forcierte Industrialisierung der Sowjetunion seit 1925 und sogar ein Teil der Industrialisierung des späten Zarenreichs und die damit verbundene Verstädterung rückgängig gemacht werden sollten. Die Reduktion der Lebensmittelausfuhren der UdSSR gegenüber denen des Zarenreichs wurde auf die Zunahme der Bevölkerung zwischen 1914 und 1939 um 30 Millionen zurückgeführt. Hier scheint eine Quelle jener Zahl »30 Millionen« zu liegen, um die nach Äußerungen von Mitgliedern der NS-Führung die sowjetische Bevölkerung dezimiert werden sollte.

Ein deutsches Interesse an der Nahrungsmittelproduktion bestehe nur hinsichtlich der Versorgung der dortigen deutschen Truppen. Da die Bevölkerung der Waldzone »größter Hungersnot entgegensehen« müsse, komme es darauf an, »frühzeitig« die Schweine- und Rinderbestände »abzuschöpfen«, sonst werde »die Bevölkerung sie für sich abschlachten, ohne dass Deutschland etwas davon hat«. Dabei gehe es nicht nur um die Versorgung der Wehrmacht, man müsse das Vieh auch über die Häfen der Ostsee zu den Schlachthäusern in Norddeutschland bringen. »Die Forderung des Führers«, im Herbst die Herabsetzung der Fleischrationen wieder aufzuheben, sei nur »durch stärkste Eingriffe in den Viehbestand Russlands« zu erreichen.

Ein weiteres Ziel war »die Eroberung der russischen Fischereiflotte«. Die »etwa 100 Fischdampfer in Murmansk, Kola usw.« sollten »auf Basis Norwegen für Deutschland nutzbar« gemacht werden. Dies sei besonders wichtig, da sie nicht mit Öl, sondern mit Kohle betrieben würden. Die Folgen, die all dies für die Bevölkerung der Waldzone haben musste, wurden klar benannt: Viele Millionen Menschen »werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen. Versuche, die Bevölkerung dort vor dem Hungertode dadurch zu retten, dass man aus der Schwarzerde-Zone Überschüsse heranzieht, können nur auf Kosten der Versorgung Europas gehen. Sie unterbinden die Durchhaltemöglichkeit Deutschlands im Kriege, sie unterbinden die Blockadefestigkeit Deutschlands und Europas.«

Für die Schwarzerde-Zone sei die wichtigste Aufgabe die Steigerung der Erzeugung. Die Aufgabe der deutschen Landwirtschaftsführer sei es, »mit einer den Verhältnissen angepassten Erzeugungsschlacht (zu) beginnen«. Wegen der Notwendigkeit, Überschüsse zu erzielen, müsse man den Kolchosbauern »lebenswürdige Zustände zubilligen«. Die Obst- und Gemüseanbaugebiete im Süden müssten zunächst die Wehrmacht versorgen. Haltbare Produkte müssten gelagert werden, um sie der deutschen Ernährung nutzbar zu machen.

Als »Minimalziel« der Ausbeutungspolitik wurde die »Versorgung der Wehrmacht im dritten und eventuell weiteren Kriegsjahr« genannt. Dabei müssten »etwas mehr« als zwei Drittel der Gesamtwehrmacht »restlos aus dem Ostraum versorgt werden«. Für den Bedarf an Brot, Nährmitteln und Bier müsse der Osten rund eine Million Tonnen Getreide bereitstellen. Dazu kämen 1,2 bis 1,5 Millionen Tonnen Hafer, 475 000 Tonnen Fleisch (2,4 Millionen Tonnen Getreide entsprechend) und 100 000 Tonnen Fett. Nach der Deckung des Heeresbedarfs sollten Lieferungen für den deutschen Zivilbedarf beginnen, vorrangig mit der Lieferung von 1,5 Millionen Tonnen Ölsaaten, »um die Fettbilanz zu verbessern«. Erst danach sollte Getreide nach Deutschland transportiert werden, um nach der schlechten Ernte 1940 und einer voraussichtlich nur mittleren Ernte 1941 die Vorratslager aufzufüllen. Da die Fleischversorgung der schwächste Punkt der deutschen Ernährung sei, müsse der Osten auch die Fleischmengen liefern, die für eine Aufhebung der Rationierung vom Herbst 1940 notwendig seien.

All dies hatte, wie die Autoren der Richtlinien betonen, »die Billigung der höchsten Stellen«. Da diese Stellen nicht näher definiert werden, sind in der Forschung Zweifel daran geäußert worden, dass der Plan die Zustimmung der Führungsspitze hatte. Die Richtlinien wurden in der »Kreislandwirtschaftsführermappe« vom 1. Juni 1941 zusammengefasst, die die Aufgaben der mehr als 10 000 »Landwirtschaftsführer« definierte, die diese Politik umsetzen sollten.

Allein diese Tatsache zeigt, dass die Richtlinien der zentral beschlossenen Politik entsprachen. Backe selbst formulierte für die Mappe »12 Gebote für Landwirtschaftsführer«, die auch deutlich seinen rassistischen Überlegenheitsdünkel ausdrücken. Unter anderem hieß es: »Seid bestimmt und wenn es sein muss, hart zu den Unterworfenen. ... Legt keine deutschen Maßstäbe und Gewohnheiten an, vergesst von Deutschland alles, außer Deutschland selbst. Werdet vor allem nicht weich und sentimental. ... Armut, Hunger und Genügsamkeit erträgt der russische Mensch seit Jahrhunderten. Sein Magen ist dehnbar, daher kein falsches Mitleid.«

Backe wurde, wie General Thomas, Mitglied im Wirtschaftsführungsstab Ost, dem Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan vorstand. Göring, damals auf dem Gipfel seiner Macht, machte die wirtschaftliche Ausbeutung zu seiner persönlichen Sache und war auch in der Folge immer wieder derjenige, der besonders rigoros die rücksichtsloseste Ausbeutung der Nahrungsressourcen forderte. Seine Äußerungen in den wichtigen Besprechungen zu Ernährungsfragen am 16. September 1941 und 6. August 1942 greifen Kerngedanken der »Richtlinien« auf. Dem italienischen Außenminister Ciano sagte er im November 1941, binnen eines Jahres würden in Russland 20 bis 30 Millionen Menschen verhungern. Zur gleichen Zeit erklärte er im Wirtschaftsstab Ost, es werde in Russland »das größte Sterben seit dem Dreißigjährigen Kriege« geben.

Auch Propagandaminister Goebbels hatte von den Plänen Kenntnis. Nach seinen Gesprächen mit Backe über Ernährungsprobleme am 1. und 6. Mai 1941 notierte er: »Backe beherrscht sein Ressort meisterhaft. Bei ihm wird getan, was überhaupt nur möglich ist. ... Und dann wollen wir uns ja im Osten gesundstoßen.« Der Chefideologe der NSDAP, Alfred Rosenberg, damals designierter Minister für die besetzten Ostgebiete, wusste ebenfalls Bescheid. In einer Rede vor Mitarbeitern erklärte er am 20. Juni 1941, die Volksernährung stehe »an der Spitze der deutschen Forderungen im Osten«. Die deutsche Führung sehe »durchaus nicht die Verpflichtung«, aus den Überschüssen des Südens »das russische Volk mit zu ernähren«. Dies sei »eine harte Notwendigkeit ..., die außerhalb jeden Gefühls steht«.

Der Hungerplan stand in Verbindung zum »Generalplan Ost«. Geplant wurden gigantische »Umvolkungen«: 31 Millionen »Fremdvölkische«, die als »nicht eindeutschungsfähig« angesehen wurden, sollten nach Westsibirien »umgesiedelt« werden - 85 Prozent der Polen, 65 Prozent der Westukrainer, 75 Prozent der Weißruthenen. Darin sind die Planungen für den russischen Bereich nicht enthalten.

Es war der deutschen Führung bewusst, dass diese Pläne verbrecherisch waren. Goebbels notierte am 16. Juni 1941 in seinem Tagebuch: »Der Führer sagt, ob recht oder unrecht, wir müssen siegen ... Und haben wir gesiegt, wer fragt uns nach der Methode. Wir haben sowieso so viel auf dem Kerbholz, dass wir siegen müssen, weil sonst unser Volk, wir an der Spitze mit allem, was uns lieb ist, ausradiert werden.«

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.