Diese kleinen Gesten

DER KHAN-REPORT: Was bedeutet Solidarität?

  • Ayesha Khan
  • Lesedauer: 4 Min.

»Solidarisch trotz Corona« und »SoliCorona« sind nur zwei der vielen Telegram-Gruppen, die im Frühjahr 2020 in vielen deutschen Großstädten gegründet wurden. Flyer und Plakate wurden gedruckt, an Haustüren geklebt und in Briefkästen geworfen. Ein Netzwerk aus freiwilligen Helfer*innen erledigt Einkäufe für Menschen, die Schwierigkeiten damit haben, holt Medikamente ab, geht mit dem Hund Gassi, weil Frauchen in Quarantäne ist. Ich habe Menschen kennengelernt und Freundschaften sind entstanden. Prinzip solidarische Nachbarschaftshilfe, ganz pragmatisch.

Auf der Suche nach einem angemessenen Thema für diese Kolumne, stoße ich immer wieder auf einen Begriff: Solidarität. Dieser Begriff begleitet mich schon länger, aber 2020 habe ich ihn besonders häufig gelesen und auch selber benutzt. Erst im Februar, nach dem rechtsterroristischem Anschlag von Hanau. Dann, als in Deutschland die erste Welle der Covid-19-Pandemie begann. Nach dem Mord an George Floyd und während der Black-Lives-Matter-Proteste in Deutschland. Und jetzt wieder, dank Corona.

Einen Mini-Shitstorm kassierte die Journalistin Kirsten Girschick vor wenigen Wochen (und das zu Recht), als sie in ihrem »Tagesthemen«-Kommentar behauptete, dass Tarifverhandlungen und Streiks der Arbeitnehmer*innen des öffentlichen Dienstes während der Pandemie unsolidarisch seien. Ob sie den Begriff und seine Bedeutung verstanden hat?

Deutsch ist nicht meine Muttersprache. Deshalb mache ich mir oft Gedanken darüber, wann ich welches deutsche Wort gelernt habe und wann mir die Bedeutung des Wortes wirklich bewusst geworden ist. Zum ersten Mal ist mir der Begriff Solidarität während der Schulzeit begegnet. Meine weiß-deutschen Klassenkamerad*innen sprachen über den Solidaritätszuschlag, und ich verstand kein Wort. Erklärt wurde mir das dann so: »Das ist eine Extrasteuer, die Wessis für die Ossis zahlen.« Unfair sei das, meinten einige noch ergänzend. Ich verstand nicht alles, aber nahm es erst einmal so hin.

Der Gemeinschaftskundeunterricht in der Oberstufe brachte dann letztlich Licht ins Dunkel, und so ergab vieles Sinn. Danach war der Begriff überall: mal als USA-Solidarität nach den Anschlägen des 11. September 2001 - oder als mir später israelsolidarische Antideutsche in der linken Szene in Hamburg begegneten. Und natürlich direkt danach Linke, die sich mit Palästinenser*innen solidarisieren. Solidarität mit Betroffenen von Gewalt. Solidarität mit Arbeiter*innen. Internationale Solidarität. Solidarität mit dem kurdischen Kampf. Solidarität (und solidarisch sein), so erschien es mir, müsse immer eine große, globale und radikale Geste sein. Demonstrationen. Streiks. Petitionen. Aufstand und Widerstand. Boykott oder Unterstützung. Aber was ist mit den kleineren und persönlichen Gesten?

Meine Familie gehört einer muslimischen Minderheit an, die in vielen sogenannten islamischen Ländern diskriminiert und verfolgt wird. Solche Gemeinden bilden oft eigene Strukturen und Netzwerke, die sich in Krisenzeiten unterstützen und solidarisch zur Seite stehen. Der Begriff Solidarität leitet sich vom Lateinischen »Solidus« ab. Das heißt »gediegen, echt, fest«. Gut, dass ich das Latinum habe. So musste ich diese Information nicht erst recherchieren. Aber »fest«, das passt. Was immer ist: Die Gemeinde steht »fest zusammen«.

Hochzeiten sind groß, weil alle aus der Gemeinde eingeladen werden. Bekannte und Nachbar*innen bringen Essen vorbei, um die Familie, die ein großes Fest plant, zu entlasten. Man bietet an, Besorgungen zu machen, Aufgaben zu übernehmen und zu unterstützen. Und das nicht nur, wenn Hochzeiten anstehen. Dies gilt für Todesfälle genauso wie für andere Krisensituationen. »Ihr habt nicht genug Schlafplätze? Kein Problem, deine Gäste können bei uns unterkommen!« Nur eine Gemeinschaft, in der sich alle gegenseitig solidarisch unterstützen, ist eine starke Gemeinschaft und kann sich schützen.

So war ich erst sehr überrascht, als meine Mutter mit 40 in eine Gewerkschaft eintrat. Aber für sie war es eine logische Konsequenz. So verstand sie Solidarität. Im Kleinen, in der Familie. Im Großen, im Betrieb. Und wer nicht die Ressourcen und Kapazitäten für große Solidaritätsbekundungen hat, kann im Kleinen anfangen. Ich frage mich, und das nicht erst seit Corona, viel öfter, wie ich Menschen in meinem Umfeld unterstützen kann - mit den Mitteln und Möglichkeiten, die ich habe. Kann ich jemandem eine Suppe vorbeibringen? Habe ich diesen Monat etwas Geld übrig? Braucht ein*e Freund*in vielleicht Ablenkung?

Seitdem ich weiß, dass diese »kleinen Gesten« ebenso ein Akt von Solidarität sind, kann ich selbst auch Unterstützung besser annehmen. Wenn wir es schaffen, im Kleinen solidarisch zu sein, dann klappt es vielleicht auch besser mit der gegenseitigen Mitverantwortung und Mitverpflichtung und solidarischem Handeln im Großen.

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