Gebannter Blick nach Washington
Das politische Europa wartet nervös auf die Auflösung des US-amerikanischen Wahlkrimis
Die Realität hat die meisten Umfragen widerlegt, die auf einen klaren Trend zum Wechsel im Weißen Haus hindeuteten. Nachdem die Stimmenauszählung nach der Präsidentschaftswahl in den USA am Dienstag (Ortszeit) ein enges Rennen zwischen dem republikanischen Amtsinhaber Donald Trump und seinem demokratischen Herausforderer Joe Biden zeigt, hielten sich die meisten Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten bedeckt. Für die Europäische Union bedeutet die Hängepartie und die drohende konstitutionelle Krise bei der westlichen Vormacht ein außenpolitisches Vakuum, das einen vorsichtigen Kurs nahe legt. Allgemein wurde der Wille zur weiteren transatlantischen Zusammenarbeit unter allen Umständen betont und vor einer explosiven innenpolitischen Situation bei der Weltmacht gewarnt.
Die Regierungen der Mitgliedsstaaten wollten die US-Wahlen allerdings offiziell erst bewerten, wenn alle Stimmen gezählt und die endgültigen Ergebnisse von den zuständigen Wahlbehörden bestätigt und bekannt gegeben wurden, erklärte gegenüber Journalisten die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen. Entsprechend bedienten die meisten Staatenlenker aus der Union auch in den sozialen Medien vor allem aktuelle nationale Themen wie die Corona-Pandemie.
Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik in der Kommission von der Leyen, erklärte, dass »die EU weiterhin bereit ist, eine starke transatlantische Partnerschaft aufzubauen« - unabhängig davon, wer letztlich als Gewinner aus der US-Präsidentschaftswahl hervorgeht. Bei ähnlichen nichtssagenden Allgemeinplätzen beließ es auch der Chefsprecher der Europäischen Kommission, der Franzose Eric Mamer. Man warte ab, »dass die für die Durchführung des Wahlprozesses in den Vereinigten Staaten zuständigen Behörden die Ergebnisse bekannt geben«. Den Stand der Auszählung wollte er nicht kommentieren.
Das EU-Schweigekartell zeigt jedoch kleinere Risse. Dafür sorgt auch Sloweniens Ministerpräsident Janez Jansa, der Trump - der sich bereits vor dem Feststehen des Ergebnisses zum Wahlsieger erklärt hatte - schon am Mittwochmorgen zur möglichen Wiederwahl gratulierte. »Es ist ziemlich klar, dass das amerikanische Volk Donald Trump und (Vize-Präsident) Mike Pence für weitere vier Jahre gewählt hat«, twitterte der rechtsnationale Politiker. Verzögerungen und »Faktenleugnungen« seitens der Mainstream-Medien würden den Triumph des US-Präsidenten nur verstärken, schloss er sich der Trumpschen Erzählweise an.
Ebenso wie sein ungarischer Amtskollege Viktor Orban zählt der Regierungschef des zwei Millionen Einwohner zählenden EU-Landes Slowenien zu Trumps europäischen Anhängern. Der Blumenstrauß aus Ljubljana geht sicher auch an Melania Trump. Die dritte Ehefrau des US-Präsidenten wurde in der früheren jugoslawischen Teilrepublik geboren. Das frühere Model ist in Slowenien eine nationale Berühmtheit. Wenig angetan von den Äußerungen Jansas zeigte sich der Transatlantik-Koordinator der Bundesregierung, Peter Beyer (CDU). »Das ist völlig bescheuert, jetzt zu gratulieren«, sagte Beyer gegenüber der ARD. »Das ist etwas, was die Europäer ja schwächt.« Die Grünen-Europaexpertin Franziska Brantner erklärte: »Es kann nicht sein, dass einzelne Staaten wie Slowenien Trump nun voreilig zum Sieger erklären und gratulieren und womöglich weitere diesem folgen.«
Während sich in Frankreich weder Präsident Emmanuel Macron noch Premierminister Jean Castex zunächst wertend zur US-Wahl äußerten, sieht die französische Spitzenpolitikerin des rechtsextremen Rassemblement National, Marine Le Pen, eine mögliche Wiederwahl Donald Trumps zum US-Präsidenten als besser für ihr Land an. Dem Sender CNews sagte die 52-Jährige, Trump stehe für die Rückkehr der Nation, die Rückkehr des Patriotismus, die Rückkehr der Grenzen und die Rückkehr der Souveränität. Ihr Staatschef hatte bereits im Vorfeld der Wahl des US-Präsidenten keinen Hehl daraus gemacht, dass seine Präferenz bei dem Demokraten Joe Biden liegt.
Den typischen Umgang der politisch Verantwortlichen mit der Situation in den USA spiegeln die überwiegend abwartenden und vorsichtigen Reaktionen in Schweden gut wider. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven erklärte, dass er die Wahl mit großem Interesse verfolge, aber zunächst die vollständige Auszählung abwarten wolle. Kaum auskunftsfreudiger zeigte sich gegenüber der Presse Außenministerin Ann Linde. Man müsse nun abwarten, sich Spekulationen enthalten und »das amerikanische System arbeiten lassen«. Die Vorsitzende der liberalen Zentrumspartei, Annie Lööf, sagte der Morgenzeitung »Sydsvenskan«, dass es möglich sei, dass Donald Trump zu ihrem Bedauern vier weitere Jahre im Amt bleibe. Das bedeute weniger transatlantische Zusammenarbeit, insbesondere hinsichtlich Freihandel und Umweltschutz. Lööf habe auf einen klaren Ausgang, einen Wechsel und »einen Staatsmann im Weißen Haus« gehofft. Der Vorsitzende der stärksten Oppositionspartei, Ulf Kristersson von den konservativen Moderaten, befürchtet, dass der Wahlausgang zu einer noch stärkeren Polarisierung in der US-amerikanischen Gesellschaft führt.
Mit seinen klaren Sympathien für Trump hat der Chef der rechtsextremen Schwedendemokraten unter den Parteiführern des Landes ein Alleinstellungsmerkmal. Für Jimmie Åkersson ist Trump ein Präsident, der seine Wahlversprechen eingehalten und die Arbeitslosigkeit zurückgedrängt hat.
Ganz anders dagegen bewertet Nooshi Dadgostar, am vergangenen Wochenende zur neuen Vorsitzenden der schwedischen Linkspartei Vänsterpartiet gewählt, das Agieren des US-Präsidenten in der Wahlkrise und weist auf die Ausbreitung von Armut in den Vereinigten Staaten hin. Donald Trump sperre sich gegen eine friedliche Übergabe der Macht nach den demokratischen Spielregeln.
Besonders kräftig werden in diesen Stunden in Lissabon für Joe Biden die Daumen gedrückt. Das iberische Land war von der Trump-Regierung zuletzt massiv unter Druck gesetzt worden, den chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei beim Ausbau des 5G-Mobilfunknetzes im Land auszuschließen. Washington drohte mit harten wirtschaftlichen Konsequenzen. Ende September hat der US-Botschafter George Glass Portugal aufgefordert, zu wählen »zwischen seinen Allierten und den Chinesen«. Die Replik von Außenminister Augusto Santos Silva war deutlich: In Portugal würden die Entscheidungen von den eigenen Behörden und eigenen Interessen folgend getroffen. Nun heißt es auch hier: Warten und hoffen.
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