Alles Fake!

Die Amazon-Serie »Utopia« ist Graphic-Novel-Ästhetik ins Streamingformat gewandelt

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.

Stellen Sie sich vor: Ein Virologe entwickelt einen Impfstoff gegen eine tödliche Grippe-Pandemie, die alle in Atem hält. Er wird zum gefeierten Helden, aber plötzlich stellt sich heraus, dass womöglich ein Pharmakonzern das Virus herstellt und sein Impfstoff gar nicht funktioniert. Alles Fake! Da ruft die »New York Times« an, um den Virologen-Helden zu interviewen: Jetzt könnte er mit einem Telefonat einiges wieder gutmachen und mithilfe eines der seriösesten Medien weltweit reinen Tisch machen. Aber als er das Gespräch annehmen will, haut ihm seine Ehefrau den auf dem Kaminsims stehenden Virologen-Preis über den Schädel, und er geht bewusstlos zu Boden. Keine Frage, das klingt total durchgeknallt. Aber genau diese Art von - mitunter recht brutaler - Action ist typisch für die achtteilige Amazon-Serie »Utopia«. Sie ist ein Remake einer britischen Serie, die bereits vor einigen Jahren auf Channel 4 lief, in Deutschland aber größtenteils unbekannt ist. Aber braucht man diese Art Verschwörungsparanoia in Pandemiezeiten? Oder ist das sogar regelrecht fahrlässig, heute so eine Geschichte zu erzählen? Mag sein. Aber auf der anderen Seite setzt »Utopia« das Thema Pandemie, das um sich greifende Misstrauen von Teilen der Bevölkerung gegen staatliche Maßnahmen und den Wunsch, angesichts eines bedrohlichen Krisenmoments die Kontrolle zu behalten, als rasantes popkulturelles Epos in Szene und besitzt eine verstörende Aktualität.

Dabei ist »Utopia« in erster Linie gar keine Serie über Pandemien - wie etwa der Achtteiler »Sloborn«, der auf zdf.neo lief und das Thema eher hilflos bearbeitete - auch wenn es in einem zentralen Handlungsstrang von »Utopia« um eine tödliche Grippewelle geht. Erzählstoffe über Pandemien, die vor Corona konzipiert wurden, wirken angesichts der in den letzten Monaten gemachten Erfahrungen, stets recht überkandidelt oder realitätsfern. Aber »Utopia« ist vor allem ein bildgewaltiges Stück Pop-Art, das wie ein Comic funktioniert. Alle Figuren dieser Serie, jede Bildeinstellung, die ganze Handlung ist wie eine komplexe Graphic Novel, die es irgendwie geschafft hat, in die Wirklichkeit zu entwischen. Im Zentrum der Geschichte stehen ein paar Nerds, die versuchen, auf einer Comic-Convention die aus losen Blättern bestehende Fortsetzung eines sagenumwobenen Comics zu erstehen. Aber zur Versteigerung des Titel gebenden Raritäten-Comics »Utopia«, das eher wie eine Sammlung künstlerischer Lithografien aussieht, kommen jede Menge Leute und nicht alle haben gute Absichten. Unter anderem gehört dazu die Hauptdarstellerin des Comics höchstselbst namens Jessica Hyde (Fiona O’Shaughnessy). Die versucht, ihren angeblich entführten Vater zu retten, der Viren designt haben soll und irgendwo gefangen gehalten wird.

Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, aber auch zwischen Vernunft und Wahnsinn, lösen sich zunehmend auf und Jessica Hyde nimmt die sympathische Nerd-Truppe mit in den Untergrund. Denn jeder, der einen Blick auf den geheimnisvollen Comic geworfen hat, schwebt in Lebensgefahr. Die mysteriöse, apokalyptische Comic-Geschichte und die Serien-Realität gehen immer mehr ineinander über. Denn neben der Pandemie und den vor sich hinmordenden Bösewichten gibt es allenthalben Fernsehbilder von Aufständen, Wirbelstürmen und anderen Ereignissen, die heutzutage im Filmgenre als multiple Krisenfaktoren zusammengerührt, den drohenden sozialen und ökologischen Kollaps veranschaulichen. Mittendrin agiert dann auch noch John Cusack als paternalistischer Pharma-Unternehmer, der seine Schergen aussendet, um das geheimnisvolle Comic-Buch aufzutreiben. Bis seine Untergebenen aufhören, sich den Weisungen des Chefs zu fügen. »Utopia« lässt sich auch als Allegorie auf Herrschaft und Ideologie lesen, die ebenso spielerisch wie kritisch und bitte keineswegs simpel fassbar sein soll. Nur schlingert die Serie manchmal etwas zu anarchisch, mit reichlich Gewalt aufgepeppt und selbstverliebt in ihren eigenen Bilderwelten durch eine nicht immer stringent logische Handlung. Aber als Comic-Art im Serienformat ist »Utopia« definitiv sehenswert.

»Utopia« auf Amazon Prime

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