• Kultur
  • Europäische Kulturhauptstadt 2025

Die Welt zu Gast im Garagenhof

Wie das sächsische »Ruß-Chemnitz« zur baldigen Kulturhauptstadt Europas werden konnte

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 5 Min.

Wo liegt Chemnitz? Diese Frage stellt sich, seit die Stadt kürzlich von einer internationalen Jury als Kulturhauptstadt Europas für 2025 nominiert wurde. Es gibt viele Antworten. Chemnitz liegt, wie der Stadtname slawischen Ursprungs verrät, an einem steinigen Fluss. Es liegt - oder wähnt sich - tief im Schatten von Dresden und Leipzig, den anderen sächsischen Großstädten. Es befindet sich, wie der Welt 2018 mit rechten Aufmärschen und Hetzjagden gezeigt wurde, mitten in Dunkeldeutschland. Es liegt als einzige deutsche Großstadt jenseits der Reichweite von Fernzügen der Deutschen Bahn. Nicht zuletzt jedoch liegt Chemnitz »dazwischen«. Es sei, heißt es in der Bewerbung, »eine osteuropäische Stadt in einem westeuropäischen Land«.

Es gibt viele Orte, an denen sich das erleben lässt: auf einem Spaziergang von Lew Kerbels 1971 eingeweihtem, zur Chemnitzer Ikone gewordenen Karl-Marx-Monument, dessen zugigen Vorplatz sozialistische Stadtplaner als Aufmarschstrecke konzipiert hatten, zu den von Stararchitekten wie Helmut Jahn und Hans Kolhoff entworfenen Konsumtempeln der Nachwendezeit. In Plattenbausiedlungen wie dem Heckert-Gebiet. An Fabrikgebäuden des 19. Jahrhunderts, die in der DDR florierende Betriebe des Textil- und Maschinenbaus beherbergten und wo heute oft nur noch Billigteppiche verramscht werden. Es zeigt sich in Personalausweisen der Jahrgänge 1953 bis 1990, in denen in der Rubrik »Geburtsort« steht: »Karl-Marx-Stadt, jetzt Chemnitz«. Die Hauptstadtbewerbung lenkt den Blick indes auf einen anderen Ort, an dem sich der Osten im Westen zeigt: Garagenhöfe.

Garagen waren in der DDR wichtig, um das lang erwartete Auto gegen Unbilden des Wetters zu schützen. Große Garagenhöfe, wie sie sich in der Stadt allerorten noch finden, stünden indes auch für eine »Geisteshaltung des Ostens«, die geprägt sei von »Machermentalität und Gemeinschaftssinn«. Vor 1990 zeigte sich das darin, dass die Fertigteilbauten zunächst bei gemeinsamen Arbeitseinsätzen errichtet und dann zum Schauplatz des regelmäßigen kollektiven Autoschraubens und -putzens wurden. Heute, so die These, lebe diese Geisteshaltung aber in den Garagen fort: Sie seien »zu klein für die Karossen der Neuzeit«, aber dienten weiter als Werkstätten, Lager- und Bastelräume und private Refugien.

Im Kulturhauptstadtjahr nun soll gewissermaßen die Welt zu Gast sein im Garagenhof. 3000 von ihnen sollen geöffnet, gemeinsam von Besitzern und Künstlern gestaltet, kreativ umgenutzt, auf verborgene Schätze hin durchsucht werden. Die wiederum könnten als Inspiration für Theaterleute dienen - ein Figurentheater soll entsprechende Stücke in einer Art mobilen Garage aufführen - oder auch für Kinder und Jugendliche, denen eine »Designschule« die Mentalität des »gemeinsamen Machens« vermitteln will.

Als Chemnitz den Kulturhauptstadt-Contest gewonnen hatte, wurden vielerorts Köpfe geschüttelt. Die Stadt, einst als »sächsisches Manchester« bezeichnet, gilt als industrielles Zentrum; nach den Brüchen von 1990 mit dem Zusammenbruch vieler Betriebe und dem Verlust Tausender Jobs florieren nun Automobilindustrie und Maschinenbau wieder. Das Erscheinungsbild geprägt von Brüchen: Kriegszerstörung, sozialistischer Stadtumbau, Transformation nach 1989. Kulturtouristen haben das einstige »Ruß-Chemnitz« bisher kaum auf dem Zettel. Teils ist das Unkenntnis geschuldet. In Chemnitz haben Henry van de Velde und Erich Mendelssohn gebaut; der Expressionist Karl Schmidt-Rottluff ist hier geboren; die Städtischen Kunstsammlungen und das Museum Gunzenhauser gelten als Geheimtipps, ebenso wie das in einer einstigen Gießerei ansässige sächsische Industriemuseum und das in einem früheren Kaufhaus untergebrachte Archäologiemuseum. Mit Kulturmetropolen wie Dresden spielt die Stadt bisher nicht in einer Liga - oder meint das zumindest; der Hang, das eigene Licht unter den Scheffel zu stellen, ist stark ausgeprägt.

Neue Museen, Theater oder Galerien wird die künftige Kulturhauptstadt 2025 dennoch nicht vorweisen. »Der größte Gewinner dieser Bewerbung ist nicht die Hochkultur«, sagt Ferenc Csák, Projektleiter der Bewerbung: »Wir werden keine teuren Kulturimmobilien bauen.« Csák, der 2010 bereits die ungarische Stadt Pécs zum Hauptstadttitel führte, setzt mit seinem Team auf eine lebendige freie Kulturszene: Vereine, Initiativen, kleine Festivals und Kunstprojekte, wie sie etwa auf dem Sonnenberg zu finden sind, ein einstiges Arbeiterviertel, in dem heute 20 Prozent der Wohnungen leer stehen. Das ist eine Folge des Aderlasses, den Chemnitz ab 1990 erlebte; in der Stadt, die Anfang der 80er Jahre 320 000 Einwohner zählte, leben heute nur noch 247 000 Menschen. Der Altersdurchschnitt gehört mit knapp 47 Jahren zu den höchsten im Land; der kürzlich neu gewählte Rathauschef träumt davon, die Stadt zum »Senior Valley« zu machen.

Gleichzeitig gibt es, anders als etwa in der »Hypestadt« Leipzig, noch ausreichend und zudem bezahlbare Räume für Ideen. Etliche Häuser am Sonnenberg wurden von Unternehmern aufgekauft, die sie für eher symbolische Beträge an Kreative vermieten. Es ist ein Pfund, mit dem die Bewerbung wuchert - was wiederum auch gemischte Gefühle hervorruft. 2025 würden in Chemnitz »die Straßen nachts nicht mehr leer und die Häuser tagsüber nicht mehr grau sein«, heißt es auf dem Blog »re:marx« - weil, wie ironisch angefügt wird, bis dahin »die Melancholie rausgentrifiziert« worden sei.

Vor allem aber setzt die Kulturhauptstadt auf Beteiligung der Bürger, auf die Garagennutzer oder auf Menschen, die Pate für einen von 4000 Bäumen in einer »Parade der Apfelbäume« werden wollen, um sich an Events wie dem Apfelblütenfest zu beteiligen. In Chemnitz sollen 2025 und in den Jahren bis dahin die Macher und Tüftler im Mittelpunkt stehen: In einer früheren Fabrikhalle des Lokomotivbauers Richard Hartmann entsteht eine »Akademie der Autodidakten«; schon ab 2022 widmen die Kunstsammlungen etliche Ausstellungen künstlerischen Autodidakten wie Frida Kahlo, Edvard Munch und Henry van de Velde. Es ist ein Konzept, das die Brüche, die Widersprüche, das »Dazwischen« zur Chemnitzer Tugend erhebt. Vielleicht ist das nicht jedermanns Sache. Aber »wer Chemnitz mit Humor nimmt«, schreibt die FAZ, »kann hier viel Freude haben«.

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