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Die Wut der Wartenden
Wann weiße Arbeiter und rechte Parteien zusammenfinden.
Das Aufatmen nach dem Machtwechsel in den Vereinigten Staaten von Amerika ist dieser Tage fast weltweit spürbar. Das Ergebnis aber war denkbar knapp: Über 70 Millionen Stimmen entfielen auf Donald Trump. Nur mit Mühe konnte der Herausforderer Joe Biden die einstigen demokratischen Hochburgen Wisconsin, Michigan und Pennsylvania zurückgewinnen. Die »blaue Wand«, welche die liberale Ostküste der USA traditionell vom konservativen »Bible Belt« trennt, steht erst einmal wieder.
Doch muss das nicht so bleiben. Denn ein problematischer Trend im Wahlverhalten, der sich schon länger abzeichnet, konnte auch bei der Abwahl Trumps nur im Ansatz gestoppt werden. Zwar legen Nachwahlumfragen nahe, dass geringer Verdienende mit Jahreseinkommen von weniger als 50 000 Dollar - wie auch die mittlere Schicht zwischen 50 000 und 100 000 Dollar - klar die Demokraten bevorzugt haben, nämlich zu 57 beziehungsweise 56 Prozent. Trump hingegen obsiegte mit 54 Prozent bei Einkommen über 100 000 Dollar. Dennoch ist auffallend, dass der Anteil der Trump-Stimmen unter den geringer Verdienenden mit rund 41 Prozent dem von 2016 entspricht. So bestätigt auch die jüngste Wahl in den USA, was sich schon beim Brexit-Referendum und im Erfolg von Parteien wie dem Rassemblement National in Frankreich und auch der deutschen AfD zeigte: Lohnabhängige vor allem aus industriellen Krisenregionen stimmen erheblich häufiger für rechte Parteien als zu früheren Zeiten.
Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena, fragt in seinem gerade erschienenen Buch »In der Warteschlange« nach den Ursachen dieses Phänomens. Der Band, der neben neuen Texten auch bereits veröffentlichte Beiträge aus Fachzeitschriften in leicht überarbeiteter Form enthält, präsentiert Befunde der empirischen Forschung aus vier Jahrzehnten. Der Wissenschaftler, der sich bereits am Rande seiner Dissertation mit dem Thema beschäftigt hat, möchte mit dieser Zusammenstellung eine »rechte Tiefengeschichte« erzählen, »die sich im Zeitverlauf radikalisiert«.
In der - neu geschriebenen - Einleitung berichtet Dörre von irritierenden Erfahrungen, die er Ende der 1980er Jahre bei Lehrgängen im Bildungszentrum der IG Metall in Sprockhövel bei Bochum machte. Engagierte gewerkschaftliche Jugendvertreter, die sich tagsüber an der Politischen Ökonomie von Karl Marx abgearbeitet hatten, gaben beim abendlichen Bier offen zu, die damals in der alten Bundesrepublik aufkommende Partei »Die Republikaner« zu wählen, die man in gewisser Weise als Vorläuferin der AfD bezeichnen kann: »Gerechtigkeitsvorstellungen adressierten sie vornehmlich an einen nationalen Wohlfahrtsstaat, der diese Ansprüche jedoch immer weniger gewährleisten konnte.«
Erstarrte Weltbilder
Als Hintergrund dessen diagnostiziert Dörre eine »Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter, als die Arbeiterschaft noch respektiert wurde und die ihr Angehörigen noch Möglichkeiten zum gesellschaftlichen Aufstieg hatten«. Von dieser Beobachtung ausgehend zieht er eine lange Entwicklungslinie hin zum inzwischen auch parlamentarisch etablierten Rechtspopulismus. Diese Linie reicht vom Frust der Ostdeutschen in der Nachwendezeit über die wachsende Globalisierung und Prekarisierung von Arbeit in den Nullerjahren bis zu den sozialen Folgen der Finanzkrise und den Ressentiments gegen Geflüchtete nach 2015.
Den Begriff der »Tiefengeschichte« hat Dörre dabei von Arlie Russell Hochschild übernommen. Die kalifornische Soziologin veröffentlichte noch vor Trumps Wahlsieg im Jahr 2016 die Ergebnisse intensiver Feldforschungen in Louisiana, einer Hochburg der rechten Tea-Party-Bewegung. Ihre Studie »Fremd in ihrem Land - Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten« wurde erst verspätet ins Deutsche übersetzt. Eindrucksvoll berichtet sie vom widersprüchlichen Denken der von ihr Befragten in der Kleinstadt Lake Charles. Weder die Überflutung von New Orleans nach dem Hurrikan Katrina noch die Verseuchung des Golfs von Mexiko durch die in der Region omnipräsente petrochemische Industrie ließ die Leute an ihrem starren Weltbild zweifeln. Trotz der höchsten Luftverschmutzungswerte von ganz Nordamerika leugneten sie den Klimawandel; rassistisch und hasserfüllt wurde der Ton, wenn das Gespräch auf den damaligen Präsidenten Barack Obama kam.
Schon 2004 hatte der Stadtsoziologe Mike Davis auf gravierende politische Verschiebungen in den USA aufmerksam gemacht. Als damals der Demokrat John Kerry gegen George W. Bush verlor, illustrierte er diesen Wandel am Beispiel von West Virginia. Im Gebirge der Appalachen lag einst das Zentrum der Kohleförderung in den USA, in Europa vergleichbar mit dem Ruhrgebiet, der belgischen Wallonie, dem polnischen Oberschlesien oder Südwales. Der Bundesstaat war lange eine Domäne der Demokraten gewesen, plötzlich aber gewann hier der Republikaner Bush mit einem Vorsprung von mehr als zehn Prozent. Ähnlich wie später bei Trump hätten vor allem weiße männliche Arbeiter - nicht selten Gewerkschafter -, das politische Lager gewechselt.
In solchen »angry white men« sieht auch der US-amerikanische Geschlechterforscher Michael Kimmel den Kern des Problems: Durch die Deindustrialisierung aus einer besonders patriarchal geprägten Umgebung verstoßen, machten zornige, eher niedrig qualifizierte Männer Feministinnen, Zuwanderung, Homosexuelle, Politikerinnen und auch Gerichte für den Verlust ihrer »Privilegien« verantwortlich. Akademische Genderdebatten finden sie provozierend - und fühlen sich auf eine ganz andere Weise diskriminiert: nämlich durch Quoten und »Affirmative Action«, also staatliche oder betriebliche Programme, die Frauen oder Schwarzen berufliche Chancen verschaffen sollen. Die internationale Forschung kennt den Männertypus des »Double Loser« - des doppelten Verlierers, der nämlich weder eine sichere Arbeitsstelle finden kann noch eine feste Lebenspartnerin.
Nun mag es fragwürdig sein, den Wunsch nach sicherer und auskömmlicher Beschäftigung im Zusammenhang mit »Privilegien« zu diskutieren. Auch hat die Wahl von 2020, bei der Trump nicht nur von anteilig mehr Schwarzen und Hispanics gewählt wurde als 2016, sondern auch von mehr Frauen, diese Figur des wütenden, sexistischen weißen Arbeiters als Basis seines rechten Populismus ein wenig relativiert. Dennoch ist es interessant, mit Dörres chronologisch angelegtem Buch das zeitlich verzögerte Übergreifen jenes schleichenden Mentalitätswandels im US-amerikanischen Arbeitermilieu auf hiesige Verhältnisse zu verfolgen. Die Gefühlslage der Deklassierten bannt Dörre in das Bild der »Warteschlange«: Die Anstehenden haben den Eindruck, dass ihre Mühen vergeblich sind, dass sie sich sinnlos abrackern. Nach ihrer Wahrnehmung kommen sie vor allem deswegen nicht vorwärts, weil sich andere, etwa zugewanderte Minderheiten, angeblich illegitim vordrängeln, ohne etwas geleistet zu haben.
Bei der Bundestagswahl 2017 bildeten neben den Pegida-Hochburgen im Osten auch alte westdeutsche Industriereviere einen Schwerpunkt rechter Kampagnen. In Essen etwa sorgte der von der SPD zur AfD übergelaufene Kandidat Guido Reil für Aufsehen. Der langjährige Kommunalpolitiker hatte sich - nicht ganz zu Unrecht - darüber erregt, dass die Verwaltung fast alle Geflüchteten im verarmten Norden der Stadt unterbrachte und so Spannungen zwischen Eingesessenen und Zugewanderten provozierte. Reil, einst Ruhrkohle-Bergmann und gewerkschaftlicher Interessenvertreter, gründete zudem die AVA, die »Alternative Vereinigung der Arbeitnehmer«. Listen mit ähnlicher Ausrichtung kandidierten später auch in Großbetrieben wie Daimler-Benz in Stuttgart für den Betriebsrat, bislang allerdings nur mit mäßigem Erfolg.
Der Rechtsextremismus, so lautet eine zentrale These von Klaus Dörre, besitze auch »eine Arbeiterbasis«. Zwar fänden »völkischer Nationalismus« und das Verteidigen der deutschen »Wohlstandsinsel« in »allen Bevölkerungsgruppen Gehör«. Dörre verweist aber auf Detailanalysen, nach denen akademisch Gebildete unter den AfD-Wählenden unterrepräsentiert sind, während für Menschen mit Hauptschulabschluss das Gegenteil gilt. »Sympathien für rechten Populismus finden sich auch und gerade im gewerkschaftlich organisierten Kern der Industriearbeiterschaft.«
»Unmodische« Klassenkategorien
An der Spitze des DGB und der meisten Einzelgewerkschaften ist dieses Thema immer noch weitgehend tabu - ähnlich wie schon vor dreißig Jahren in der von Dörre selbst erlebten Bildungsarbeit der IG Metall. Man wolle, so heißt es dazu bisweilen hinter vorgehaltener Hand, das brisante Phänomen nicht »unnötig aufwerten«. So gesehen legt Klaus Dörre mit seinem Klartext sprechenden Forschungsband den Finger in eine Wunde, die noch immer offen liegt: Zwar wähle »die große Mehrheit der Industrie- und Produktionsarbeiter« nach wie vor »demokratisch, in EU-Europa sogar überwiegend links«. Doch wachse in diesem Milieu eben auch die Sympathie für rechte Haltungen und Meinungen.
Als Hintergrund dessen erkennt Dörre nicht zuletzt den Umstand, dass »Klassenkategorien wissenschaftlich wie politisch aus der Mode gekommen sind«. Eine »demobilisierte« Gesellschaft bilde den »Nährboden, den die radikale Rechte für eine Umdefinition sozioökonomischer und kultureller Spannungen nutzt«: Das Erstarken der Rechten findet in jenem politischen Vakuum statt, das die nachhaltige Schwäche der Linken seit den späteren 1980er Jahren mit bedingt - und umgekehrt.
Klaus Dörre: In der Warteschlange. Arbeiter*innen und die radikale Rechte. Verlag Westfälisches Dampfboot, 356 S., 30 €.
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