Verschulden und Helfen

Haiti und die »Hilfe«: ein Paradefall postkolonialer Nord-Süd-Beziehungen.

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 5 Min.

Über Jahrhunderte war das »Kochon Kreol« ein wichtiger Bestandteil der Volksernährung in Haiti. Bis 1978 in der benachbarten Dominikanischen Republik die Schweinepest ausbrach. Weil Washington befürchtete, die Tierseuche könne via Haiti in die USA gelangen, wurde das Land zum »Schweinemassaker« genötigt: Bis 1984 rottete man das robuste heimische Hausschwein konsequent aus. Im Gegenzug wurde natürlich »geholfen«: Aus den USA kam als Ersatz das »Iowa Pig«. Doch diese Rasse braucht Kraftfutter statt Küchenabfall - und permanente medizinische Begleitung. Das konnten die typischen kleinen Landwirtschaften nicht leisten. Am Ende erlebten die Armutsviertel weiteren Zuzug.

Die Episode, von der Katja Maurer - Haiti-Expertin von Medico International - in ihrem mit Andrea Pollmeier herausgegebenen Band »Haitianische Renaissance« beiläufig berichtet, ist eine Parabel für das postkoloniale Nord-Süd-Verhältnis. »Hilfe« geht oft von der Problemwahrnehmung der Helfenden aus, ignoriert nicht selten das Gegebene - und kann mehr Schwierigkeiten schaffen, als sie löst: Die »Entwicklungshilfe und ihr Pendant, die humanitäre Hilfe«, so der haitianische Filmemacher Raoul Peck 2014 in einem Vortrag, sei ein »Über-Phänomen«, eine »Maschine«, eine »Hydra mit vielen Köpfen, die aber nicht mehr in der Lage ist, die Summe ihrer Einzelteile zu steuern«.

Die Konferenz, auf der Peck dies sagte, hieß »Jenseits der Hilfe«. Es hat sich im Denken des Nordens über die Politik des »Helfens« einiges geändert - wenn auch nicht im Sinne des Filmemachers. Die Forderung, die »Hilfe« einzustellen, kommt oft etwa von der AfD - oder von Neoliberalen, bei denen die Redewendung, das System der Hilfe verhindere bloß, »auf eigenen Füßen stehen zu lernen«, im Weltmaßstab so zynisch ist, wie im Kontext hiesigen Sozialabbaus.

Als Peck die »Hilfe« einen »Antriebsriemen« nannte, »Aspirin in einer brutalen, Notfallkommando in einer völlig deregulierten Welt«, meinte er etwas Grundsätzliches. Nämlich das, was man internationale Ordnung nennt. Kein Beispiel könnte deren Einrichtung so gut verdeutlichen wie die Geschichte Haitis, das der erste und - wenn auch nur wenig präsente - Paradefall des herrschenden Nord-Süd-Verhältnisses ist.

Diese Geschichte beginnt 1791 mit einer Revolte der Verschleppten, die 90 Prozent der Bevölkerung der französischen Kolonie stellten, eines Zentrums der Sklaverei: Allein im 18. Jahrhundert wurden dort 685 000 Menschen »verkauft«. 8000 Zwangsarbeitsplantagen produzierten 50 Prozent des europäischen Bedarfs an Zucker und Kakao. Die »Perle der Antillen« war so lukrativ, dass Frankreich trotz Abschaffung der Sklaverei 1792 nicht an eine Entlassung dachte. Und noch bevor sich Haiti 1804 für unabhängig erklärte, begann in der damals jungen »ältesten Demokratie der Welt« das Kopfzerbrechen darüber, wie der - so US-Präsident Thomas Jefferson - »Pestvirus« der Befreiung eingedämmt werden könne.

Tatsächlich bestimmt der mächtige Nachbar Haitis Geschick. Die Besetzung von 1915 bis 1934 - während der die Rebellion des Charlemagne Masséna Péralte mit 15 000 Todesopfern niedergeschlagen wurde -, sollte den Einfluss Deutschlands zurückdrängen, das für Haitis Handel wichtig geworden war. 1957, als sich Kubas Revolution ankündigte, wurde unter Einfluss Washingtons die bis 1986 währende Diktatur der Duvaliers installiert, die den linken Oppositionsführer Jacques Stéphen Alexis ermordete.

Doch niemand personifiziert das haitianische Dilemma so sehr wie Jean Bertrand Aristide. Als der Linkskatholik, dessen Partei die Klassengesellschaft aufheben wollte, 1991 die erste demokratische Präsidentschaftswahl gewann, kam es rasch zu einem undurchsichtigen Putsch. Aristide wurde in die USA ausgeflogen - um 1994 in Begleitung amerikanischer Truppen zurückzukehren, nun aber mit neoliberaler Agenda. Nach einem Intermezzo seines Außenministers durfte er 2000 erneut antreten, er gewann auch - nun aber wieder gegen den Kandidaten Washingtons. Es folgten Putschversuche, die USA beschuldigten ihn der Wahlfälschung und froren Hilfsgelder ein. Weggefährten assoziierten Aristide mit Drogen- und Waffenschieberei. Ein Journalist, der Beweise ankündigte, wurde ermordet. Am Ende intervenierten Frankreich und die USA, es folgten Blauhelme - und der Präsident wurde 2004 erneut außer Landes gebracht. Heute gilt Aristide, der seit 2011 wieder in Haiti lebt, als Multimillionär. Zuletzt machte er 2017 Nachrichten: Als er als Zeuge in einem Geldwäscheprozess ausgesagt hatte, wurde sein Auto beschossen.

Worin hat sich Aristide verstrickt? Neben äußeren Mächten, die mal ihn benutzten und mal umgekehrt, offenbar im System der Eliten seines Landes. Dessen ungute Geschichte geht auf 1825 zurück. Damals musste Haiti, um als Staat anerkannt zu werden, gegenüber Frankreich eine »Schuld« von astronomischen 150 Millionen Goldfrancs anerkennen. Bis in die 1950er wurde gezahlt - und musste sich Haiti dafür anderweitig verschulden. So fehlte nicht nur chronisch das Geld für den Aufbau staatlicher Strukturen, sondern etablierte sich ein Wirtschafts- und Herrschaftssystem, das im Kern auf Werteabfluss ausgerichtet ist. Seit bald 200 Jahren ist es der Horizont der Eliten Haitis, den Abfluss zu organisieren und davon zu leben. Klingt es da nicht hohl, heute von diesen zu verlangen, sich in einem Modus »Good Governance« um das Land zu kümmern?

Im Januar 2010 wurde Haiti von einem der schlimmsten Erdbeben der Geschichte getroffen. In der folgenden Hilfsaktion erreichte jenes Dilemma einen Gipfel. Es vermengten sich die Interessen jener Eliten mit denen externer Wirtschaftsakteure sowie die Eigenlogiken von Organisationen mit den Agenden von Staaten - so wurde als Bedingung der Hilfe mitten in der Katastrophe eine Wahl vorgeschrieben - in einer Weise, die fast die Frage erlaubt, ob sich Haiti bis heute nicht vom Erdbeben erholt hat oder von diesem Exzess der »Hilfe«. So tief ist das »Helfersyndrom« im Norden eingeschliffen, so sehr wird das Unglück exotisiert, dass nicht nur kaum verstanden werden kann, worin Haitis Dilemma besteht - sondern auch jene Massenbewegung fast übersehen wurde, die 2019 für eine haitianische Renaissance stritt.

Katja Maurer, Andrea Pollmeier: Haitianische Renaissance. Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation. Brandes + Apsel, 220 S., brosch., 19,90 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.