Ein Tee-Nager
Education sentimentale 1962: »Bodensee« von Dietmar Sous
Vielleicht der schönste Gag im neuen, wieder pointenreichen Roman von Dietmar Sous findet sich ganz am Ende, wenn der heißersehnte, lang erwartete Brief der Urlaubsbekanntschaft Elke endlich beim Ich-Erzähler in Aachen ankommt. »Ich streifte meine durchnässten Schuhe ab, zündete ein Holzfeuer im Küchenherd an, wusch mir die Hände. Es war drei Uhr nachmittags. Mit einem Kartoffelmesser und Fingern, die vor Unruhe kaum zu gebrauchen waren, machte ich mich daran, den Brief zu öffnen.« Letzter Satz. Schluss, aus, Ende. War’s wirklich ein Liebesbrief oder nicht doch vielmehr eine (wenn auch seitenlang gewundene) Absage? Wir erfahren’s nicht.
Und landen schon beim Vergleich mit einem der ganz Großen der Literaturgeschichte: Gustave Flaubert hat in seiner »Education sentimentale« die beiden männlichen Protagonisten bei gelegentlichen Treffen sich immer wieder ihr schönstes Erlebnis zurufen lassen. Ein Ereignis, das tatsächlich niemals stattgefunden hat, der Besuch bei einer Prostituierten, wo beide vor lauter Angst Hals über Kopf geflohen sind. Die Erzählung kreist um ein Nichts, eine leere Stelle. Dietmar Sous ist nun erneut auf diesen wunderbaren Einfall gestoßen.
Wir schreiben das Jahr 1962, das Jahr, in dessen Verlauf sich die Kubakrise zuspitzt und auch im beschaulichen äußersten Westen der alten BRD, in Aachen, die Zeichen der Zeit bedrohlich wirken. Anfänglich aber scheint’s nicht ganz behaglich zu sein, auch für den 15-jährigen Erzähler aus kleinbürgerlich-proletarischen Verhältnissen. Er geht aufs Gymnasium, mehr oder weniger lustlos, und findet seine Mutter ebenso attraktiv wie seinen Vater reichlich bescheuert: »Leni war von den Mutationen des Atomzeitalters nicht im geringsten betroffen. Ihr Gesicht hätte auf die Titelseite der Revue oder Quick gepasst. Ihre Beine hörten gar nicht auf, so lang waren sie. Vater fehlten zwei, drei Zentimeter an Lenis Größe, dafür war er sieben Jahre älter und seine Muskulatur deutlich ausgeprägter.«
Es ist die hohe Zeit des deutschen Schlagers und der Beginn des Siegeszugs des Fernsehens; Jeans, die im Tanzkurs verpönt sind, heißen noch Nieten- oder Texashosen, geraucht wird »Senussi«, und an allen Ecken und Kanten rundum und zu jeder Zeit lauern die Gefahren des Sexus, denen man doch nur allzu gern erliegen würde. Käm’s denn nur einmal dazu! Eine Herausforderung für unseren Helden stellt die zwei Jahre ältere Mitbewohnerin im Mietshaus dar, Christel, die ihn - natürlich gegen ordentliches Entgeld - ab und zu mal näher ranlässt. So haspelt man sich durch den unspektakulären Alltag, in den dann jäh - mit der Wucht der Rock’n’Roll-Songs eines Little Richard - der Brief mit der Einladung eines Onkels mütterlicherseits zu einem Sommerurlaub am Bodensee eintrifft. Mutter und Sohn sind gleich Feuer und Flamme, der Vater nölt und zieht sich zurück, und sie reisen dann per Bahn nach Wasserburg, wo der Ich-Erzähler Eva begegnet: Sie kommt aus dem niederrheinischen Hamborn (heute Duisburg) mit der damals bundesweit bekannten Fußballmannschaft Hamborn 07 (der Höhepunkt der Vereingeschichte war 1961 das gegen Kaiserslautern verlorene Halbfinale im DFB-Pokal).
Mit Eva scheint der »Tee-Nager«, wie es an einer Stelle so wunderbar schön-schräg eingedeutscht heißt, entscheidende Stationen seiner »Education sentimentale« diesseits des bloßen Gefummels an Christel zu erleben. Was aber - der gnadenlosen Suspense-Technik von Dieter Sous sei Dank - bestenfalls in raunenden Andeutungen aufscheint.
Sous gelingt es wieder einmal - nun zum x-ten Mal - in kurzen lakonischen Sätzen ein großes Panorama in einer kleinen Welt zu entfalten. Mit bestem rheinischen Humor, der freilich nie ohne bitter-bösen Witz zu denken ist. Ja, so war’s wohl seinerzeit im Westen der alten Republik noch vor dem Aufbruch der Studenten und der Politisierung, Aufmüpfigkeit zeigt sich damals allenfalls beim Lackzerkratzen von Lehrer-Pkw (samt anschließendem Schulverweis).
Dietmar Sous: Bodensee. Transit, 144 S., geb. 18 €
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