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Ein Stück Kultur

In Amsterdam war das »Kraken« seit den 60er Jahren eine Tradition, doch heute werden Hausbesetzer kriminalisiert

  • Sarah Tekath, Amsterdam
  • Lesedauer: 8 Min.

Im historischen Zentrum von Amsterdam liegt die Keizersgracht mit ihren prächtigen Gebäuden aus dem 18. Jahrhundert. Herrschaftliche Häuser mit Erkern, Säulen davor und breiten Treppenaufgängen hinauf zur Haustür. Jeder Amsterdamer lebte wohl gern in so einem Grachtenhaus. Für die meisten bleibt das aber ein Traum, denn die Mieten hier sind astronomisch.

Außer für diejenigen, die keine Miete zahlen. Wie etwa die Gruppe in der Keizersgracht 318, die das Gebäude seit Juli 2020 besetzt hält. Da es mehrere Jahre lang leer stand, hatten die Hausbesetzer - auf Niederländisch Krakers genannt - entschieden, es als Wohnraum für sich zu beanspruchen. Ein Vorgehen, das seit den 1960er Jahren im Land Tradition hat.

An der Fassade hängen Banner mit Aufschriften: »Kraken gaat door« (Hausbesetzen geht weiter) und »We are back« (Wir sind zurück). An der mächtigen hölzernen Eingangstür klebt ein Zettel. Der Text, auf Niederländisch und Englisch, erklärt, dass das Gebäude seit Jahren ungenutzt leer stehe, während in Amsterdam die Mieten explodierten, immer mehr Hotels entstünden und die Wartezeit für Anwärter auf Sozialwohnungen bis zu 20 Jahre betragen könne. Darüber befindet sich eine elektronische Klingel. Auf das erste Läuten geschieht nichts, beim zweiten Mal fragt eine Stimme von innen auf Englisch nach Namen und Begehr.

Nur zögerlich geht die Tür auf, gerade so weit, dass sich ein schmaler Mann zwischen Tür und Wand quetschen kann. Er ist klein, keine 1,70 Meter groß, trägt eine hellblaue, ausgefranste Jeansjacke mit schwarzen Aufnähern und schwarze, geschnürte Lederstiefel. Das dunkle Haar ist auf Millimeterlänge rasiert, die Nase mit einem Ring gepierct, und um den Hals hängt eine dicke Gliederkette aus Silber mit Vorhängeschloss. Er will nicht mit der Presse reden, ist misstrauisch. Man habe da schlechte Erfahrungen gemacht. Auf Nachfragen reagiert er genervt, aber nicht aggressiv, zieht sich immer wieder hinter die Tür zurück, macht sie aber nicht zu. Schließlich kommt eine Frau mit grün gefärbten Haaren heraus, an der Leine einen Boxermischling. Während der Mann noch schnell die Pflanzen vor dem Haus mit einer Wasserflasche gießt, dreht sie sich eine Zigarette. Dann gehen die beiden über eine der Brücken davon.

Besitzer: »Ich kann die Menschen ja schon verstehen«

Hausbesetzungen wie diese gibt es in den Niederlanden seit 1964. Mit den Jahren wuchs die Mitgliederzahl der Szene und die Organisation wurde professioneller, bis die Situation 1980 eskalierte und die Polizei mit einem Panzer anrückte, um Barrikaden der Hausbesetzer zu durchbrechen und Gebäude zu räumen. 1994 wurde zwar ein Gesetz verabschiedet, das verbot, ein Gebäude zu besetzen, das weniger als ein Jahr leer steht. Doch erst seit 2010 gilt Kraken, also Häuser- besetzen, generell als Straftat. Angedroht ist eine Haftstrafe von einem Jahr, bei gewaltsamem Widerstand sogar zwei Jahre und acht Monate. 2012, befeuert durch die Ankunft vieler Flüchtlinge, erstarkte die Szene erneut, und das Kollektiv »We are here«, bestehend aus Migranten und Asylsuchenden, besetzte bis Ende 2017 mehr als 30 Gebäude und Parks in Amsterdam.

Einer der betroffenen Eigentümer ist Salih Ozcan. Im Sommer 2019 wurde seine Firmenhalle in einem Industriegebiet in West-Amsterdam, die zu einem Showroom für Autos umgebaut werden sollte, von 40 Männern besetzt. »Die Polizei erklärte mir, dass es sich um professionelle Hausbesetzer handele, und riet mir daher, dort nicht allein hineinzugehen, da die Situation erfahrungsgemäß häufig eskaliere,« sagt er beim Gespräch im Büro seiner Autowerkstatt in einem Vorort von Amsterdam. »Bis dahin wusste ich nicht einmal, dass es solche Gruppen gibt. Ich habe später erfahren, dass die Hausbesetzer Leute haben, die nach leer stehenden Objekten suchen.«

Ozcan holte sich Unterstützung durch ein Fernsehteam des Senders AT5. »Eigentlich wollte ich so der verantwortlichen Gemeinde zeigen, dass sie eine Lösung für diese Menschen finden müssen. Aber kaum waren wir mit der Kamera in der Halle, wurden wir wieder hinausgeworfen.«

Üblicherweise bleiben die Asyl-Hausbesetzer mindestens acht Wochen, denn so lange braucht es, bis der Eigentümer des Objekts mit Hilfe eines Anwalts einen Richterbeschluss für eine Räumung erreichen kann. Erst dann tritt die Polizei in Aktion. Im Fall von Salih Ozcan ging es jedoch schneller. Nach elf Tagen, beschleunigt durch die große Aufmerksamkeit nationaler und internationaler Medien, schritt die Polizei ein und räumte das Gebäude, in dem sich mittlerweile bereits 100 Personen befanden. Ein Jahr danach sagt Ozcan: »Ich kann die Menschen ja schon verstehen, aber das ist doch auch keine Lösung.«

Besetzer: »Wir schaffen Wohnraum, und sei es nur für fünf Menschen«

»Eigentlich werden Gebäude, von denen wir glauben, dass sie leer stehen, über einen längeren Zeitraum beobachtet. Aber bei den Asyl-Hausbesetzern besteht eine andere Dringlichkeit. Alles, was leer aussieht, verspricht ein bisschen länger zu überleben«, sagt Annemarie Dijkstra, die ihren richtigen Namen für sich behält, weil sie lieber unerkannt bleiben will. Sie gehört seit Jahren zur Hausbesetzerszene. Auch Dijkstra trägt Schwarz und die typischen schweren, geschnürten Lederstiefel. Auch ihre Nase ist mit einem kleinen Ring gepierct, ihren Kaffee trinkt sie - natürlich - schwarz. »Es gibt genug Platz in Amsterdam, und die Stadt hätte genug Geld, die Menschen unterzubringen«, erklärt sie bei einem Treffen in einem Café.

Sie hat bemerkt, dass die Hausbesetzerszene in den vergangenen Jahren, seit der Gesetzesänderung, merklich geschrumpft ist. »Häuser werden schneller wieder geräumt. Unsere gesamte Infrastruktur wurde uns genommen.« Dadurch sei es auch schwieriger geworden, die Sicherheit der Mitglieder der Bewegung zu gewährleisten. »Gerade bei den wöchentlichen Sprechstunden, die wir für Menschen mit Wohnraumproblemen anbieten, kann es gefährlich werden. Wir wissen ja nie, wer da kommt.« Besonders für die Frauengruppe des Kollektivs »We are here« sei die Lage heikel, da die jungen, nicht selten schwangeren Frauen leicht zum Ziel Rechtsradikaler werden könnten.

Annemarie Dijkstra räumt ein, dass es in der Gesellschaft auch Angst vor der Hausbesetzerszene gebe. Das habe vornehmlich mit Klischees und der Präsentation in den Medien zu tun. »Wir werden immer als drogenabhängige Schmarotzer dargestellt, die anderen Menschen etwas wegnehmen. Dabei wollen wir helfen. Wir schaffen Wohnraum, und sei es auch nur für fünf Menschen. Dann haben wir halt fünf Menschen geholfen.«

Besitz, der nach riskanter Aktion inzwischen allen offensteht

Wohnraum und Platz für Kreatives schaffen wollte auch Ivo Schmetz, der 1999 das leere Haus OT301 am Vondelpark im Amsterdamer Stadtzentrum besetzte. Heute ist es ein wichtiger Teil der städtischen Kulturszene, ebenso wie die ehemals besetzten Häuser Paradiso und Melkweg, die heute als Konzerthallen genutzt werden. »Das Gebäude war perfekt für uns. Das Problem war nur, dass es noch kein ganzes Jahr leer stand, wodurch wir uns des Hausfriedensbruchs strafbar gemacht hätten«, erklärt er im Büro des OT301 mit Blick auf den Innenhof mit bunter Graffitikunst, Fahrrädern und Pflanzen. Heute trägt der Mann, der seit 20 Jahren Mitglied der Szene ist, keinen Anarcho-Look mehr, sondern eine grüne Outdoorjacke und Turnschuhe. »Es war eine riskante Besetzung. Der Eigentümer des Gebäudes, die Stadt Amsterdam, hätte sehr schnell räumen lassen können.« Glücklicherweise fand die Idee der Künstlerbesetzergruppe öffentlich Anklang, und so entstanden in dem dreistöckigen Haus mit einer Fläche von 2000 Quadratmetern Wohnraum, Arbeitsflächen, Studios und Räume für kulturelle Veranstaltungen.

Im Jahr 2006 kaufte die Gruppe das Haus und wurde zum legalen kollektiven Besitzer. »Aktuell leben im Vorderhaus sechs Personen und im Hauptgebäude noch mal so viele. Uns ist es aber wichtig, dass unser Haus für Menschen offensteht. Normalerweise haben wir sechs oder sieben Tage pro Woche geöffnet, für Ausstellungen, Lesungen, Filmvorführungen, Yoga-Klassen oder Selbstverteidigungskurse.«

Obwohl Ivo Schmetz offiziell nicht mehr zu den Hausbesetzern gehört, so befürwortet er ihre Aktionen bis heute. »Ich bin froh, dass es noch aktive Hausbesetzer gibt, denn das Gesetz von 2010 hat Amsterdam verändert. Deswegen ist es gut, dass sich die Bewegung wieder zeigt. Die Menschen scheinen mittlerweile zu vergessen, dass diese Kultur der Stadt Amsterdam auch sehr viel Gutes gegeben hat. Viele Gebäude wären ohne die Hausbesetzer abgerissen worden - und dank der Besetzer sind zahlreiche Kulturzentren entstanden, die es heute noch gibt,« sagt Schmetz.

Häuser zu besetzen, schafft Raum für Diversität

Es sei wichtig, Diversität in der Stadt zu haben, mit Möglichkeiten für alle. »Häuser zu besetzen, war immer ein Katalysator, um Neues auf den Weg zu bringen. Aber in den vergangenen zehn Jahren sind kaum Gebäude dieser Art hinzugekommen, viele wurden zwangsgeräumt und geschlossen.«

Der Weg aus dem OT301 hinaus führt durch den Innenhof und einen Gang, der unter dem Vorderhaus verläuft, vorbei an schwarz-weißen Graffitis mit Siamkatzen und dem freundlichen Roboter R2D2 aus dem »Star Wars«-Film. In der Ecke auf einem alten Schrank steht ein kleiner, aus Altmetall zusammengeschweißter Roboter. Die schwere Metalltür zur Hauptstraße fällt ins Schloss. Für Interessierte wird sie jederzeit geöffnet. Anders als in der Keizersgracht, wo der Häuserkampf hinter verschlossenen Türen tobt.

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