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Warten auf die Zeit nach der Krise
Ilham Abdulrahman wurde dank Solidarischem Grundeinkommen zur Stadtteilmutter
Im Familienzentrum FACE am Wilhelmsruher Damm ist es ungewöhnlich ruhig an diesem Mittwochmorgen. Der November-Lockdown hat die Angebote direkt wieder stillgelegt, die hier sonst für Lebendigkeit sorgen: Kinder kommen zur Hausaufgabenhilfe und zum Turnen, größere Mädchen zum Hip-Hop-Tanzen, Frauen und Mütter können sich hier treffen, mit oder ohne ihren Babys.
Das sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis mit einer Vergütung nach Landesmindestlohn mit 12,50 Euro pro Stunde bzw. Tariflohn soll Menschen helfen, innerhalb eines Jahres in eine unbefristete Weiterbeschäftigung übernommen zu werden. Insgesamt sollen 1000 Stellen bereitgestellt werden. 500 gibt es bislang.
Die Tätigkeiten liegen in einem gemeinwohlorientierten und sich im öffentlichen Interesse des Landes Berlin befindenden Feld (vor allem im sozialen sowie handwerklichen Bereich).
Menschen, die daran teilnehmen, dürfen nicht länger als drei Jahre arbeitslos sein.
Ilham Abdulrahman sitzt im fast leeren Cafébereich und bittet als erstes darum, sie zu duzen. Das fällt gar nicht so leicht, denn die 53-Jährige hat zuletzt einen starken Eindruck hinterlassen. Im August trat sie bei einer Vorstellung von Teilnehmer*innen am Programm Solidarisches Grundeinkommen (SEG) des Berliner Senats im Roten Rathaus ans Mikrofon und erzählte dort einen kleinen Teil ihrer Geschichte. Die Syrerin war Englischlehrerin in Damaskus, als im Frühjahr 2011 Hunderttausende Menschen begannen, gegen den Diktator und Staatschef Baschar Al-Assad zu protestieren und die Revolution gegen seine Herrschaft ausriefen. Assad ließ den Aufstand brutal niederschlagen, während parallel der Terror des selbst ernannten Islamischen Staates in der Region wütete. Hunderttausende Syrer*innen wurden getötet, bis heute wurden 13 Millionen Menschen zu Flüchtlingen. Abdulrahman begann, Kinder zu unterrichten, die auf der Flucht vor den Angriffen aus den ländlichen Regionen in die syrische Hauptstadt kamen. »Die Menschen haben vieles selbst organisiert, als im Krieg alles zusammenbrach«, erinnert sie sich und lächelt trotz der schmerzhaften Erinnerung.
Als die Bomben immer öfter auch auf Damaskus fielen, wurde die fünffache Mutter selbst zum Flüchtling. Mit ihrem Mann und ihren heute zwischen elf und 21 Jahre alten Kindern ist sie seit nunmehr vier Jahren in Berlin. Deutsch spricht sie, als wären es schon viele mehr. Acht Mal ist sie in der Zeit zwischen verschiedenen Flüchtlingsunterkünften in der Stadt umgezogen. Ihre Kinder nehmen bis zu mehr als einer Stunde Fahrtweg auf sich, weil sie ihre Schulen nicht wechseln wollen, erklärt sie. Sie hofft, dass sie nun, da sie im Märkischen Viertel arbeitet, auch hier bald eine Wohnung findet. Ihrer jüngsten Tochter fehlten die Kindheitsfreundinnen in Damaskus sehr, berichtet die Syrerin. »Es hat lange gedauert, bis sie die Traurigkeit überwunden hat und eine neue beste Freundin gefunden hat, eine neue ›BFF‹«, erzählt sie und lacht. »Best Friend Forever«, sagen die Kids heute, egal, mit welcher Muttersprache sie aufwachsen: Beste Freundin für immer.
»Die Fluchterfahrung gibt mir auch Stärke, wenn ich hier in Deutschland auf eigenen Füßen stehen und etwas richtig Gutes machen kann«, beschreibt sie das Gefühl, sich eine neue Existenz aufbauen zu müssen. Denn auch wenn sich die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen, Oppositionsgruppen und islamistischen Milizen inzwischen hauptsächlich auf die Region Idlib konzentrieren: Ihr Land Syrien liegt am Boden und Baschar Al-Assad hat seine Macht brutal gefestigt.
»Ilham ist ein großes Glück für uns«, sagt Felix Bergemann, der das Familienzentrum leitet. Nicht nur, weil ihre ruhige, offene und zurückhaltend fröhliche Art es einfach macht, mit ihr ins Gespräch zu kommen, sondern auch weil sie viele der Schwierigkeiten im Schnelldurchlauf kennenlernen musste, die man in Deutschland und in Berlin mit Bürokratie und Verwaltung, dem Finden einer Wohnung und Kinderbetreuung haben kann, meint Bergemann. Der studierte Erziehungswissenschaftler hat das Face vor zehn Jahren mitgegründet. Er ist selbst in der ersten großen Neubausiedlung des ehemaligen West-Berlins aufgewachsen. Seit 1999 ist das »MV« der zehnte Ortsteil des Bezirks Reinickendorf. Über 40 000 Menschen leben hier auf einer Fläche von etwas über drei Quadratkilometern. Das mittendrin gelegene Familienzentrum ist nicht nur deshalb ein Ort der Begegnung, weil es zu den Reinickendorfer Kirchengemeinden Apostel-Petrus und Apostel-Johannes gehört, die beide im Märkischen Viertel ansässig sind. Hier oben im Norden sind auch viele Menschen ohne christlichen Hintergrund auf die sozialen Angebote angewiesen, die das Haus bereitstellt: einen Laden, in dem es Second-Hand-Kleidung und andere gebrauchte Dinge zu kaufen gibt, eine Kiezküche, in der Menschen aus der Nachbarschaft gemeinsam kochen können. Zu Beginn der Pandemie verteilte der Bildungsverbund Märkisches Viertel von hier aus Laptops und Tablets an Kinder, die sie für Schulaufgaben oder Videotreffen mit ihren Klassen benötigen, als die Schulen geschlossen wurden und viele von der Teilnahme am Online-Unterricht ausgeschlossen waren. Die Geräte konnten umsonst für einen Monat ausgeliehen werden.
Als im Frühjahr die lange erwarteten Stadtteilmütter Ilham Abdulrahman, Najwa Alaf, Fatima Mahmoud, Hanna Hetmanczyk und Grace Rydl-Asidigbi im Face ihre Arbeit aufnahmen, fiel dies zeitlich ausgerechnet mit dem Beginn der Pandemie zusammen. So wie schon die ersten Stadtteilmütter in Neukölln, wo die Idee 2006 entstanden ist, sollen Ilham und ihre Kolleginnen auch im Märkischen Viertel schwer erreichbare Familien kontaktieren und mit notwendigen Informationen zu Erziehung, Sprache, Kinderbetreuung und Bildungsangeboten versorgen. Nun verhindern die Kontaktbeschränkungen genau diese Aufgabe: Menschen aufsuchen, ins Gespräch kommen, Unterstützung anbieten. Ilham Abdulrahman sagt, sie warte, dass es endlich losgehe. »Ich will etwas tun.« Jetzt, wo sie eine Arbeit mit einem Einkommen hat, die ihr allein schon wegen der Nachbarschaft und der Kolleg*innen gut gefällt.
»Wir brauchen diese Leute, die rausgehen dringend«, meint Felix Bergemann. Denn nach wie vor erreichten viele Angebote und Beratungsmöglichkeiten nur diejenigen, die danach suchten, aber zu wenige, die sie dringend brauchten. »Tolle Menschen« seien die Stadtteilmütter, sagt ihr Chef über die Frauen. Fünf lange Jahre habe man versucht, diese Stellen über das entsprechende Landesprogramm zu bekommen. Weil dort aber nur 30 pro Jahr bereitgestellt werden, sei es erst mit der »Notlösung« gelungen, dass die beiden Programme zusammengefasst wurden, die Stellen zu beantragen. Bergemann kritisiert auch, dass der Rahmen, um als Betrieb SEG-Stellen anzumelden, mitunter sehr eng sei. So sehen die Kriterien zum Beispiel vor, dass die Bewerber*innen höchstens drei Jahre arbeitslos gewesen sein dürfen.
Damit man die passenden Personen fände, müsse man auf die Jobcenter und ihre Daten zugreifen. Oder andersherum, erklärt der Leiter der Einrichtung am Wilhelmsruher Damm: »Manchen Bewerber*innnen haben wir gesagt ›geht zum Jobcenter, wenn ihr hier anfangen wollt‹«, erklärt Bergemann. Auch dass die Stellen für das Solidarische Grundeinkommen als Übergangslösung konzipiert sind, findet er nicht richtig. »Wir brauchen die Stadtteilmütter ja langfristig.«
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