»Eine Form neokolonialen Verhaltens«

Anne Jung von medico international zu den Ungerechtigkeiten bei der globalen Verteilung der Covid-19-Impfstoffe

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 7 Min.

Es mehren sich die Meldungen, wonach verschiedene Covid-19-Impfstoffe kurz vor der Produktion stehen. Freut man sich über diese Entwicklung überall auf der Welt gleichermaßen?

Die Erleichterung über die Erfolgsmeldungen bei der Impfstoffentwicklung wird in unseren westlichen Städten weitaus größer gewesen sein als in den Armenvierteln von Dhaka oder Nairobi. Ob von dem Impfstoff etwas für die Länder des Südens abfällt, ist noch völlig ungeklärt.

Anne Jung
Die Politikwissenschaftlerin ist Gesundheitsreferentin bei der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international. Ihre Arbeitsbereiche sind unter anderem globale Gesundheit unter Einbeziehung internationaler Handelbeziehungen und Rohstoffhandel. Medico hat mit über 30 Ländern aus dem Süden den Aufruf »Patente töten« gestartet. Mit Jung sprach Sebastian Bähr.

Wie wird entschieden, wer Zugriff auf die globalen Produktionskapazitäten der Impfstoffe erhält?

Es gibt zahlreiche Verträge zwischen einzelnen Ländern und Pharmaunternehmen. Eine kleine Gruppe reicher Länder, die 13 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, hat sich laut Oxfam bereits mehr als die Hälfte der zukünftigen Versorgung mit Covid-19-Impfstoffen gesichert. Konkret haben die reichen Länder bereits mehr als fünf Milliarden Dosen von Impfstoffen gekauft. Auch Deutschland hat solche Exklusivverträge abgeschlossen. Weniger als 800 Millionen Dosen sind bisher für die ärmsten Länder der Welt vorgesehen.

Hatte die Weltgesundheitsorganisation versucht, für Alternativen zu kämpfen?

Die WHO hat schon früh nach dem Ausbruch der Pandemie versucht, dem drohenden Impfnationalismus etwas entgegenzusetzen. Auf Initiative von Costa Rica und unterstützt durch die internationale Gesundheitsbehörde lief im Juni die Gründung eines freien und gemeinsamen Technologiepools namens C-TAP an. Das Projekt sollte Patente und alle anderen Formen geistigen Eigentums wie Daten und Software sammeln und einen Technologietransfer zu den ärmeren Ländern gewährleisten. Die Initiative konnte sich jedoch in den Industrienationen nicht durchsetzen. Die Gewinne der Pharmafirmen waren diesen einfach zu wichtig. Die Konzerne sind in der Initiative nun ebenfalls nicht dabei. Inzwischen verweist selbst die WHO kaum noch auf ihre Idee.

Gibt es weitere Initiativen der Uno?

Bei der UNO ist noch eine andere Initiative angesiedelt, sie heißt ACT und basiert auf freiwilligen Spenden und ist nicht rechtebasiert. Deutschland und andere Länder beteiligen sich hier, aber noch ist nicht mal ein Bruchteil des Geldes eingegangen, das benötigt würde.

Welche Gruppen werden letztlich bei den Impfungen benachteiligt werden, was vermuten Sie?

Es gibt schon Versuche auf internationaler politischer Ebene, eine bedarfsorientierte Verteilung, zum Beispiel für Gesundheitsarbeiter*innen zu erreichen. Die erwähnten nationalen Alleingänge stehen dem aber im Weg.

Das klingt nicht nach einer effizienten Pandemiebekämpfung.

Es ist eine paradoxe Situation: So ist es eigentlich klar, dass eine global gleichmäßigere Verteilung der zunächst begrenzten Impfstoffdosen sinnvoller wäre, als wenn einige Länder große Teile ihrer Bevölkerung immunisieren und andere Länder kaum Zugang zu Impfungen haben. Dies würde helfen, die Zahl der Coronatoten deutlich zu verringern. Dazu bräuchte es aber politischen Willen.

Eine Initiative ausgehend von Indien und Südafrika hatte jüngst bei der Welthandelsorganisation den Antrag gestellt, Patentrechte für Covid-19 Produkte sowie die Regelungen des Handelsabkommens TRIPS auszusetzen. Warum?

Weil das Patentsystem, wie es im TRIPS- Abkommen 1995 auf Druck von Industriestaaten und zahlreichen Unternehmen – darunter Pfizer – festgelegt wurde, hohe Preise nach sich zieht und in der Folge Menschenleben kostet. Gebraucht werde, so heißt es im Antrag, eine grundlegende und umfassende Aussetzung der Regelungen, bis die Weltbevölkerung eine Immunität gegen das Virus entwickelt hat. Dies würde es allen WTO-Mitgliedsstaaten ermöglichen, sich in der Forschung, Herstellung, Ausweitung und Lieferung von Covid-19-Instrumenten zu engagieren, ohne einen Handelsstreit befürchten zu müssen. Die WHO hatte ebenfalls für den Vorschlag geworben, nachdem sie sich nicht damit durchsetzen konnte, Forschungsergebnisse in einen Technologiepool einzuspeisen.

Wie haben die anderen Länder reagiert?

Die Bundesregierung, mir ihr die Regierungen aller europäischen Länder sowie weitere Mitglieder der WTO lehnten den Antrag rundum ab. Sie argumentierten, dass die Lizenzierung auf freiwilliger Basis geschehen müsse. Nachdem sie sich bereits das Gros der Impfdosen gesichert haben, sollen Pharma, Politik und Philantrokapitalisten (wohltätige oder soziale Kapitalisten, Anmerkung der Red.) kooperieren, um eine weitergehende Verteilung zu organisieren.

Wie ist der Vorschlag zu bewerten?

Die Regierung von Indien beispielsweise hatte schon mehrfach darauf hingewiesen, dass solche Maßnahmen nie ausreichen können, um den mittel- und langfristigen Bedarf der 7,8 Milliarden Menschen auf dieser Welt zu decken. Die Blockadepolitik der Industrienationen und ihr Drängen auf freiwillige spendenbasierte Lösungen, sind letztlich – so auch das Europäisches Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte – eine Form neokolonialen Verhaltens. Die armen Länder werden auf Mechanismen verwiesen, die Abhängigkeiten schaffen und »die Abgründe der Ungleichheit vergrößern« wie die südafrikanische Delegation am Ende der WTO-Verhandlungen feststellte. Wir erleben dabei seit Jahrzehnten, dass das Prinzip Freiwilligkeit nicht funktioniert.

Inwiefern?

Gerade Südafrika hat aus den Erfahrungen der HIV/Aids-Pandemie gelernt, dass es tödlich sein kann, sich auf das vielbeschworene Prinzip Freiwilligkeit der Industrienationen zu verlassen. Es dauerte Jahre, bis sich niedrigere Preise für HIV-Medikamente gegen die Pharmaindustrie durchsetzen ließen. Zehntausende starben wegen der hohen Kosten für Medikamente allein an Aids.

Wie argumentiert die Bundesregierung?

Die Bundesregierung würde einwenden, dass Pharmaunternehmen ein »Gewinnverzichtsversprechen« abgegeben haben, also ein soziales Ziel verfolgen. Diese Argumentation ist jedoch absurd, weil ihre tatsächlichen Kosten für Forschung und Entwicklung nicht transparent sind. Man kann ihr »Versprechen« so gar nicht überprüfen. Einige Unternehmen verlangen zwischen 20 und schätzungsweise 40 Euro pro Dosis, was die Regierungen Milliarden kosten würde. Es wird erwartet, dass alleine Pfizer und BioNTech nächstes Jahr mindestens 13 Milliarden Dollar mit ihrem Impfstoff verdienen werden.

Wie könnte eine gerechte Entwicklung, Produktion und Verteilung der Impfstoffe global gewährleistet werden?

Die jüngst getroffenen Entscheidungen manifestieren das Prinzip, die Schutzrechte der Patente über das Menschenrecht auf den bestmöglichen Zugang zu Gesundheit zu stellen. Benötigt wird stattdessen eine an den Gesundheitsbedürfnissen der Menschen ausgerichtete Politik, die Arzneimittel als globale öffentliche Güter behandelt und die Macht von Pharmaunternehmen im öffentlichen Interesse begrenzt. Hierfür sind die Entkoppelung von Forschungskosten und der Medikamentenpreise unabdingbar, um neue Anreizmechanismen zu setzen, die Innovationen fördern und zugänglich machen.

Was bräuchte es weiter?

Neben den erwähnten Initiativen von WHO und der Ausnahmeregelung im TRIPS-Abkommen gibt es internationale Initiativen aus der Zivilgesellschaft. Diese nehmen auch den Aufbau von flächendeckenden Gesundheitssystemen in den Blick und kritisieren gleichzeitig die Repression, die unter dem Deckmantel der Corona-Bekämpfung in Nicaragua, Simbabwe und vielen anderen Ländern stattfindet. Unsere Partner*innen aus dem Süden berichten davon täglich. Die Kluft zwischen dem, was viele arme Länder brauchen und dem, was sie aus eigener Kraft finanzieren können, ist nach wie vor unethisch groß. Die Pandemie wird diese Situation noch viel schlimmer machen.

Inwiefern würde die Vergesellschaftung von Pharmakonzernen die Möglichkeiten stärken, Arzneimittel als öffentliches Gut zu behandeln?

Soweit müsste man noch nicht mal gehen. Es würde erst mal ausreichen, dass die öffentlichen Mittel, die in Milliardenhöhe vergeben werden, an eine Preisbindung für die Abgabe der Medikamente gekoppelt wären.

Welche Möglichkeit haben die kritische Zivilgesellschaft und linke Gruppen in Deutschland, sich für eine gerechte Verteilung der Impfstoffe einzusetzen?

Das Virus macht nicht vor Grenzen halt. Es sollte daher sowohl aus solidarischer Perspektive als auch im eigenen Interesse sein, diese Politik zu kritisieren. Dafür wäre das Bundeskanzlerinnenamt oder die WTO-Zentrale in Genf sicher ein besserer Ort des Protestes als die Sitze der Pharmaunternehmen. Es ist die Politik, die ihre Fürsorgeverpflichtung gegenüber ihrer Bevölkerung verletzt. Leider ist das Thema immer noch sehr abstrakt für die meisten.

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