Im Trubel der kunstseidenen Stadt
Auf den Spuren von Irmgard Keun: Ein großartiger Band von Michael Bienert
Berlin war eine verheißungsvolle Stadt. Wer berühmt werden, wer etwas darstellen wollte, musste hierher in die Metropole kommen, auf Biegen und Brechen. Und da ist Doris - sie will genau das, ja ganz wörtlich genommen will sie »ein Glanz sein«. Doch viele junge Frauen in den letzten Jahren der Weimarer Republik, der Arbeitslosigkeit und Krisen besitzen kaum das Nötigste.
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Michael Bienert: Das kunstseidene Berlin. Irmgard Keuns literarische Schauplätze.
Verlag für Berlin-Brandenburg, 200 S., 205 Abb., geb., 25 €.
Doris hat große Träume, einen gestohlenen teuren Pelzmantel - und sonst vor allem billige Kunstseide. Der Roman »Das kunstseidene Mädchen« (1932) macht den Namen der Schriftstellerin Irmgard Keun (1905-1982) schlagartig bekannt. Sie trifft einen Nerv der Zeit mit dem neuen Ton ihrer Literatur, kess und ein bisschen schnoddrig, unsentimental, witzig, temperamentvoll, auch Neue Sachlichkeit genannt. Kurt Tucholsky bescheinigt der jungen Autorin viel Talent und notiert in seiner Literaturkritik, wie sich »das scheinbar so harmlos-komische Buch schließlich zu einer erschütternden Anklage gegen die Gesellschaft auswächst«. Hier zeige sich etwas, das es noch niemals gegeben habe: »eine deutsche Humoristin«.
Michael Bienert, der Berlin-Kenner par excellence, hat sich von Irmgard Keuns Büchern offensichtlich ebenso angezogen gefühlt. Erneut begibt er sich für die Reihe »Literarische Schauplätze« - nach Bänden über »Kästners Berlin«, »E. T. A. Hoffmanns Berlin«, »Döblins Berlin« und zuletzt »Brechts Berlin« - auf Spurensuche in Raum und Zeit. Es war, so sei ihm bewusst geworden, wie er schreibt, Zeit für eine Autorin, die bisher in seiner Sammlung fehlte.
Mit dem Band »Das kunstseidene Berlin« gelang ihm ein überzeugendes Resultat literarischer Stadterkundung: Alle Adressen Irmgard Keuns in Berlin sucht er auf, ihr Geburtshaus in Charlottenburg; vor allem natürlich auch die Schauplätze ihrer Romane, und das sind zunächst einmal die Wartesäle der Berliner Bahnhöfe und die Cafés rund um die Gedächtniskirche. Wo Doris, das Mädchen aus Köln, bei einer Freundin provisorisch unterkommt, ist die Münzstraße nahe dem Alexanderplatz, seit Döblin eine literarische Adresse und ein Stückchen Berliner Unterwelt; dann aber, je mehr sie Fuß fasst in der großen Stadt, eher der elegante Berliner Westen, Savignyplatz, die Gegend um den Wittenbergplatz, Tauentzien und Kurfürstendamm. Denn ein Sehnsuchtsziel all der jungen Leute, die einen Anteil erringen möchten an Glanz und Glamour der großen Welt, ist das KaDeWe.
Ein Hauptgewinn dieser Buchreihe im Verlag für Berlin-Brandenburg sind die Illustrationen: Der hervorragend aufgemachte und reich bestückte Bild-Text-Band, sorgfältig komponiert mit historischen und heutigen Aufnahmen, Plakaten, Detailansichten und biografischen Fundstücken ist eine Freude für alle Sinne und macht »Das kunstseidene Berlin« zu einem exquisiten Geschenk.
Geboren in Berlin, lebt Irmgard Keun dann allerdings mit ihren Eltern seit 1913 für einige Jahre in Köln. Von dort aus schickt sie auch ihre Hauptfigur Doris auf den Weg nach Berlin. Und nach einem Versuch als Stenotypistin und dem Besuch einer Schauspielschule zieht es sie zurück in die Metropole. Denn Berlin bietet all das, was ihr erstrebenswert erscheint, im Übermaß: Tempo und Großstadtflair, die modernen Künste, Weltläufigkeit, einen Abglanz vom Leben der Reichen und Schönen.
Die Ich-Erzählerin Doris beobachtet das Flirren, den Trubel bei Tag und Nacht mit wachen Augen. Dass sie selber dabei eher unten steht und mittellosen Frauen wie ihr kaum eine Chance geboten wird, schärft ihren kritischen Blick beträchtlich. Eines will sie nicht: sich aushalten lassen. Die Figuren der Irmgard Keun verkörpern ebenso wie die Autorin den Typus der selbstbewussten jungen Frau, die ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit erringen, sich einen eigenen Platz im hektischen Großstadtleben schaffen möchte. Das ist sie sich wert.
Dieses Frauenbild widersprach natürlich dem der NS-Ideologie vehement. Folgerichtig wurden ihre Bücher in der Nazizeit verboten und Irmgard Keun 1936 ins Exil gedrängt. Berlin ist ihr vieles schuldig geblieben. So gibt es in der Stadt bis heute keine Straße, die ihren Namen trägt. In Köln dagegen, wo sie 1982 gestorben ist, wird am Rathausturm sogar mit einer Skulptur an sie erinnert.
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