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Überleben und Erinnern
Es hatte keinen Sinn zu versuchen, die Familie Stelerius ausfindig zu machen. Seit ewigen Zeiten mussten sie fort sein oder nicht mehr leben. Es war zu lange her. Selbst wenn es mir gelingen sollte, einen Angehörigen zu finden, was ich nicht glaubte, konnte ich doch jetzt, nach all den Jahren, nicht mehr damit ankommen. Aber ich hatte es Eva versprochen. Sie wollte, dass ich zu ihnen gehe. Sie ging einfach davon aus, dass sie noch da waren, noch am selben Platz wohnten, im selben Haus.
Marlene Müller-Haas
Die Übersetzerin studierte Kunstgeschichte, Niederlandistik und Germanistik in Würzburg, Amsterdam und Berlin, lehrte an der Freien Universität Berlin und lebt heute als freie Übersetzerin in der Hauptstadt. 2002 erhielt Marlene Müller-Haas den Else-Otten-Übersetzerpreis für Essays von Charlotte Mutsaers. Neben niederländischer Literatur übersetzt sie Sach- und Kunsttexte.
Marga Minco
Die niederländische Schriftstellerin und Journalistin wurde am 31. März 1920 in Breda als Sara Menco geboren. Sie überlebte als Einzige ihrer Familie den Holocaust, weil sie in Amsterdam vor der Gestapo flüchten und untertauchen konnte, während ihre Eltern, der Bruder und die Schwester von den Deutschen umgebracht wurden. Ihr Werk erwähnt das Drama jener niederländischen Juden, die während des Zweiten Weltkrieges verfolgt wurden. Außer Romanen und Erzählungen hat Marga Minco Bücher für Kinder und Szenarien für das Fernsehen veröffentlicht. Ihr Werk wurde in zwanzig Sprachen übersetzt. 2019 erhielt sie für ihr Gesamtwerk den längst überfälligen P.C.-Hooft-Preis.
Seit Jahren war ich nicht mehr in dieses Viertel gekommen. Ich hatte dort nichts mehr zu suchen. Aus Neugier und auch weil Eva immer wieder davon sprach, schlug ich irgendwann einmal das Telefonbuch beim Buchstaben S auf. Sie schienen wirklich noch dort zu wohnen. An der alten Adresse. Dennoch dauerte es noch Monate, bis ich endlich die Nummer wählte. Ich schob es immer wieder hinaus. Manchmal befürchtete ich, mich lächerlich zu machen; dann wieder beschlich mich eine Art Lethargie. Was sollte ich ihnen sagen? Es gab auch Wochen, in denen ich nicht daran dachte. Bis der Tag meiner Abreise nach Los Angeles näher rückte.
Ich habe die Nummer gewählt. Es hätte keine halbe Stunde später sein dürfen. Am Abend rufe ich Eva an. Wir sind beide aufgeregt.
Es hatte mit dem Brief von Miriam Weissbach aus Jerusalem angefangen. Ich kannte sie nicht, und die drei langen, eng beschriebenen Seiten in einer ziemlich unleserlichen Handschrift sagten mir zunächst nicht viel. Solche Episteln kannte ich zur Genüge. In der Regel ging es um Arbeiten, die ich beurteilen sollte; oder der Briefschreiber meinte, mir mit dem kurzen Abriß eines spannenden Lebens einen Gefallen zu tun, als würde es mir an Inspiration fehlen. Ich las flüchtig. Bis mein Blick auf den Namen meiner Schwester fiel.
»Setzen Sie sich einmal in aller Ruhe hin«, schrieb Miriam Weissbach. »Ich habe etwas entdeckt, das Sie interessieren wird.«
Ich setzte mich in den Korbstuhl neben der Tür zum Garten. Es war ein regnerischer Tag Ende September, einer dieser dunklen Morgen, die einen vorzeitigen Herbst anzukündigen scheinen. Die Birkenzweige hinten im Garten schwankten verdrießlich und regenschwer hin und her. Die beiden weißen Stämme, die an die Vorderbeine von Giraffen erinnerten, konnten sie nicht still halten.
Danach starrte ich eine ganze Weile hinaus. Der Regen hatte plötzlich aufgehört, Amseln pickten wie wild im Gras und zogen Würmer aus der Erde, Kohlmeisen versteckten sich in den Zweigen der Sträucher, als spielten sie Fangen mit Abschlagen, und flogen gleich wieder ruhelos zu einem anderen Unterschlupf.
Irgendwann einmal hatte ich eine Geschichte über meine Schwester geschrieben, damals, als ich regelmäßig von ihr träumte. Ich bin wieder in der Stadt meiner Kindheit, irre auf der Suche nach ihr umher. Ich weiß, dass sie zurückgekommen ist, aber ich kann nicht zu ihr gelangen. Ich habe den Eindruck, dass sie mir ausweicht. Warum weicht sie mir aus? Ich verstehe es nicht und werde von einer tiefen Traurigkeit überfallen.
Als wir noch einfach in den Zug steigen konnten, fuhr ich einmal zu meiner Schwester nach Amsterdam. Sie wohnte seit kurzem mit Hans bei seiner Mutter am Wedemerplein, ich war noch nicht dort gewesen. Ich hätte damit auch nicht länger warten dürfen. Wenige Wochen später kam das Reiseverbot.
Frau Ruppin, sie hinkte ein wenig, was ihr seltsamerweise eine gewisse Note gab, war eine schlanke grauhaarige Frau mit vornehmem, aber strengem Gesicht. Ihr deutscher Akzent klang im Gegensatz zu dem der meisten ihrer Landsleute nicht ganz so schneidend. Meine Schwester stellte mich ihr kurz vor.
Frau Ruppin saß auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne in einem dunklen Hinterzimmer am Tisch und schrieb Briefe. Als ich sie begrüßte und links neben ihrem Stuhl stehenblieb, genau dort, wo das spärliche Licht durch die mit Stores bedeckten Fenster zum Hof hereinfiel, werde ich mich unwillkürlich umgesehen haben. Jedenfalls das ein oder andere wahrgenommen haben.
Dennoch konnte ich mich später nur an ein Porträt in einem Silberrahmen und an ein paar Porzellansachen erinnern, wie sehr ich mich auch bemühte, ich in diese Zeit zurückzuversetzen, in das dämmrige Zimmer, in dem ich mich höchstens zehn Minuten aufgehalten habe.
Meine Schwester hatte ein schmales Nebenzimmer für sich, das neben der Bettcouch nur noch Platz für einen kleinen Tisch und einen niedrigen Sessel bot. Wir saßen auf dem Bett. Es ist April 1942, und zum letzten Mal bin ich mit ihr allein. Sie wird von Palästina gesprochen haben, sehr wahrscheinlich habe ich danach gefragt. Sie haben vor, sobald der Krieg vorbei ist, dorthin auszuwandern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie als Pionier auf einem Bauernhof arbeiten will. Zweifellos habe ich ihr zugeredet sich abzusetzen, nicht am Wedemerplein zu bleiben. Aber sie muss gar nicht gehen. Sie steht mit Hans auf einer Liste. Das erklärt sie leise, fast flüsternd, aber aus ihrem Blick spricht Selbstsicherheit. Ihnen kann nichts passieren. Das ist alles, was sie dazu sagt.
Ich gebe mich nicht damit zufrieden und bohre weiter. »Könnten wir nicht zusammen irgendwohin gehen?«, frage ich. Wie damals als Kinder, als wir alles zusammen unternahmen. Sie als die Ältere muss auf mich aufpassen, sagt Mutter, weil ich ein kleines, ängstliches Kind bin. Sie nimmt mich mit zum Kindergarten am Kasteelplein, setzt mich auf einen Schemel, passt auf, dass mich die anderen Kinder im Sandkasten nicht mit Sand bewerfen, dass sie mir nichts wegnehmen. In der Grundschule beschützt sie mich, wenn die Kinder uns bedrohen und als »dreckige Brillenjuden« beschimpfen. Dann drischt sie wütend mit ihrer Büchertasche um sich, teilt harte Schläge aus.
Ich denke an die Sommerferien am Meer, an unsere Abendwanderungen durch die Dünen mit den Jungen, die nur sie umschwärmen und mich im Dunkeln zurücklassen wollen. Aber sie zieht mich mit über die lockeren Sandwege und lässt mich nicht los.
Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich sie beschützen muss. Ich werde schon einen Platz finden, wo wir uns verstecken können, wie wir früher beim Verstecken in einen Schrank gekrochen sind, zwischen Mutters Kleider, die leicht nach Parfüm rochen, und mucksmäuschenstill aneinandergeschmiegt kauerten, um nicht entdeckt zu werden.
Später, als mir selbst ein schmaler, vollgestopfter Raum zur Verfügung steht, in dem ich mich kaum umdrehen kann, habe ich daran denken müssen, dass sie dort gut auch noch hätte einziehen können. Sie war doch schon an wenig Platz gewöhnt?
Ich sage zu ihr: »Sie finden uns nicht.« An Hans denke ich gar nicht. Ignoriere ich ihn absichtlich? Bin ich eifersüchtig? Fürchte ich, dass meine Schwester Hans mehr liebt als mich? Bilde ich mir ein, dass er mir meine Schwester wegnimmt? Ich habe meinen Arm um sie gelegt, weil mir klar ist, dass die Rollen jetzt vertauscht sind.
Ich verließ meine Schwester und bleichte mir die Haare.
2
Gut ein halbes Jahr nach ihrem ersten Brief kam Miriam Weissbach nach Amsterdam. Wir hatten uns in einem Café beim Concertgebouw verabredet. Sie saß schon an einem Tisch in der Ecke und wartete auf mich. Sie war eine untersetzte Frau mit breiten Hüften, grauen Strähnen im dunklen Haar und hellen Augen, die ständig an mir vorbeisahen, als wollte sie die anderen Besucher im Auge behalten. Auf dem Stuhl neben ihr stand eine Reisetasche mit geöffnetem Reißverschluss, offenbar, um im Laufe des Nachmittags die betreffenden Papiere herauszuholen, die mir eventuell noch überraschende Details liefern könnten.
Ich glaubte, sie zuerst über die Familie Stelerius informieren, ihr erzählen zu müssen, was ich von Eva Ruppin über sie erfahren hatte. Über die Entdeckung im Telefonbuch, aus dem hervorging, dass sie dort noch mit ihrer alten Adresse eingetragen waren. Sicherlich würde sie verstehen, sagte ich zu ihr, dass ich mich immer wieder nicht überwinden konnte, sie so einfach anzurufen.
Miriam Weissbach interessierte sich nicht dafür. Sie war zwar schon mehrmals in Amsterdam gewesen, kannte die Stadt aber kaum und den Wedemerplein schon gar nicht.
Es ist auch kein auffallender Platz. Er hat nichts Großartiges, es gibt keine beeindruckenden Denkmäler, keine schönen Bauwerke, keine Springbrunnen. In der angrenzenden Straße kann man an ihm vorüberkommen, ohne dass einem der Platz ins Auge fallen muss. Ich übersah ihn nicht.
An dem Morgen, als ich durch die Rivierenbuurt, das Viertel mit den Flussnamen, fahre und in die Vlaarstraat abbiege, wird mir bewusst, wie konsequent ich diesen Teil der Stadt immer gemieden haben muss. Wie ich auch seit Jahren die Sarphatistraat zu umgehen versuche und lieber einen Umweg mache, als an dem Haus vorbeizugehen, aus dem meine Eltern auf immer verschwunden sind. Der Wedemerplein hat die Form eines Trichters und mündet in eine kurze, schmale Straße, die auf ein hohes Apartmenthaus stößt, das rechtwinklig dazu steht, wodurch der Platz hier in einer Sackgasse zu enden scheint. Ich fuhr ein paarmal um die Grünanlage, eine kleine Wiese, gesäumt von dichtem Gebüsch und in der Mitte eine Skulptur aus drei Bronzequadern, die mit ihrer gewölbten Oberseite wie drei Kommas bedeutungslos auf der Wiese stehen, und parkte dann vor dem Haus.
Der steile Aufgang führte zu einer dunklen Türnische. Es war seltsam, überhaupt nichts wiederzuerkennen. Sie müssen die Treppe hinaufgerannt sein. Sie kommen unangekündigt. Sie irren sich nicht in der Tür. Sie klingeln laut. Sie haben es eilig. Sie nehmen sie mit. Schnell. Schnell die Steinstufen hinunter.
Schaudernd fuhr ich davon und merkte erst hinter der Vlaarstraat an der tränennassen Frontscheibe, dass es inzwischen regnete und ich die Scheibenwischer nicht eingeschaltet hatte. Später, als dort jemand ans Telefon ging und sagte: »Kommen Sie am besten gleich, ich bin noch eine halbe Stunde da«, war ich, ohne zu überlegen, hingefahren und wurde erst im Aufgang mit der Steintreppe von Zweifeln überfallen. In meiner Erinnerung war die Treppe weniger steil, der Eingang heller, waren die Türen nicht so farblos. Nach so vielen Jahren verfällt ein Viertel allmählich, auch ein Gebäudekomplex, siechen Fassaden wie alte Menschen dahin.
Nachgelassene Tage
Zwei Frauen von zwei Kontinenten - die Ich-Erzählerin, eine niederländische Schriftstellerin, sowie eine gebürtige Berlinerin in Kalifornien - begegnen sich ganz unerwartet. Sie kannten sich vorher nicht, wussten nicht einmal voneinander. Aber eine aufgeschlagene Zeitschrift in einer Bibliothek in Jerusalem und der Brief einer Unbekannten setzen eine Kette von Ereignissen in Gang. Bald sitzen beide Frauen einander gegenüber und erfahren nach und nach, dass sie viel mehr verbindet, als dass sie Jüdinnen sind, die vor einem halben Jahrhundert ihre Verfolgung überlebt haben. Nach und nach wird eine Vergangenheit gegenwärtig, die beide scheinbar abgelegt hatten.
Marga Minco:
Nachgelassene Tage
Arco-Verlag
Roman, 120 S., geb., 22,00 €
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