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Eine Frage, aber unzählige mögliche Antworten
Der Philosoph Wolfram Eilenberger über starke Denkerinnen, die Lust an der Selbstbefragung und das Elend der akademischen Philosophie
Wolfram Eilenberger, die Heldinnen Ihres neuesten Buches »Feuer der Freiheit« - Simone de Beauvoir, Hannah Arendt, Simone Weil und Ayn Rand - stehen für ganz unterschiedliche philosophische Positionen. Eines aber ist ihrem Denken gemein: Sie stehen ihrer sozialen Umgebung distanziert gegenüber.
Es gibt bei ihnen ein Staunen darüber, dass die anderen Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Als zwischen 1905 und 1909 geborene Generationsgenossinnen werden sie von den politischen Turbulenzen, die der Erste Weltkrieg auslöste, jeweils stark in Mitleidenschaft gezogen. Qua Berufung sind sie in einer Position der dreifachen Marginalisierung: als Frauen, als Intellektuelle und - mit Ausnahme von Beauvoir - als Jüdinnen.
Das Interessante an dieser Ausgangssituation ist, dass alle vier darauf beharren, dass nicht sie das Problem sind, sondern die anderen - mitunter alle anderen. Man kann bei ihnen eine starke Aufladung der eigenen Existenz beobachten. Sie setzen jeweils ihr Ich gegen die Welt, gegen die bürgerliche Klasse oder gegen die Russische Revolution. Alle vier zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie sich in Richtung eines Ichs entwerfen, das erst noch zu erreichen ist. Die Philosophie wird jeweils zum Motor dieser Selbstwerdung.
Das ist Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts ein eher männlicher Lebensentwurf. Der Weg der Frau erschien damals noch als biologisch vorbestimmt: Sie hatte die Rolle der Mutter einzunehmen und den Haushalt zu führen.
In dieser Zeit wird es Frauen in einer breiteren Form zum ersten Mal möglich, das ihnen vorbestimmte Schicksal eigenmächtig und selbstbestimmt zu verlassen. Einige haben dazu die Mittel, bei den vieren kommt noch der starke Wille hinzu, den eigenen Lebensentwurf realisieren zu wollen. Sie definieren sich immer als Handelnde und niemals als Opfer. Sie klagen nie: »Was hat man mir angetan?«, sondern fragen stattdessen: »Wie komme ich hier raus?« Das macht sie zu starken, faszinierenden und für ihre Umwelt zuweilen auch problematischen Figuren.
Der Weg zu dieser Selbstentfaltung führt über die akademische Ausbildung, die für bürgerliche Frauen damals noch nicht selbstverständlich war. Man könnte sich fragen, was aus ihnen geworden wäre, hätten sie nicht studieren können.
Etwa zur gleichen Zeit fragt sich Virginia Woolf in einem Essay, was eine zur Zeit Shakespeares geborene talentierte Frau eigentlich hätte tun können. Im Unterschied zu vorhergegangenen Generationen von Frauen gehörte das Studium für die vier schon zu den Bedingungen der Möglichkeit ihres jeweiligen Selbstentwurfs. Sie mussten sich diese Möglichkeit zum Teil aber auch erkämpfen.
Weder bei Simone de Beauvoir noch bei Ayn Rand war die akademische Ausbildung vorbestimmt oder familiär erwünscht. Während des Studium kamen sie dann sehr früh in Kontakt zu teils älteren Freunden, die ihnen den Weg ebneten. Bei Arendt sind das Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei Weil ist es Alain und bei Beauvoir eben Jean-Paul Sartre.
Während sich Beauvoir mit dem gleichaltrigen Sartre als Studentin auf Augenhöhe bewegt, sind es bei Arendt ältere Männer, die ihren Platz in der akademischen Welt schon gefunden haben.
Das stimmt. Allerdings könnte man die gängige Redeweise über das Verhältnis von Arendt und Heidegger auch umdrehen. Statt zu sagen: »Arendt war Heideggers Geliebte« könnte es auch heißen: »Heidegger war Arendts Geliebter«. Wer in diesem erotischen Verhältnis die Oberhand hatte, ist nämlich unklar. Die vier Frauen sind auch in ihrem Beziehungsleben in klassischen Formulierungen nicht leicht zu kategorisieren.
Sie unterscheiden sich sehr stark in der Art und Weise, wie sie sich zur Liebe verhalten.
Ihre zentrale biografische Frage ist jeweils das Verhältnis zwischen ihrem Ich und den Anderen. Das zeigt sich besonders deutlich in ihrer Sichtweise auf die erotische Liebe. Dazu nehmen die Frauen vier verschiedene Positionen ein. Hannah Arendt empfindet den Einbruch des Anderen in die eigene Welt als eine Bedrohung. Sie fürchtet den Verlust ihrer Autonomie. In ihrem Verhältnis zu Heidegger empfindet sie diesen Autonomieverlust sehr stark, bei ihrem späteren Ehemann Heinrich Blücher sehr schwach. Er ist der erste Mann, von dem sie sagen kann, dass er ihr das eigene Selbst nicht wegnimmt. Bei Simone de Beauvoir ist das ganz anders. Sie findet ihre Autonomie gerade in der Beziehung mit Sartre.
Das widerspricht der These, dass sie in ihrem Denken anfangs Sartre nur kopiert habe.
Das ist völliger Unsinn. Allerdings hat Beauvoir dieses Vorurteil in ihrer Biografie selbst genährt. Sie war an der Kuratierung des Werks von Sartre sehr stark interessiert und ist dabei der Bedeutung ihres eigenen Denkens nicht gerecht geworden. Bei Ayn Rand wiederum ist es so, dass sie die Liebe nur als bewusst gewähltes Mittel der Selbststeigerung sehen kann, was dem uns geläufigen Verständnis von romantischer Liebe deutlich widerspricht. Die Beziehung zu ihrem Mann ist eine eher instrumentelle.
Frank O’Connor war Schauspieler und später Maler, er hätte in ihren Augen ein Hollywood-Star werden sollen.
Rand hielt Schönheit für eine Art moralischen Grundwert und dieser Mann war sehr, sehr schön. Mit ihrer Auffassung stand sie quer zu der damals üblichen, dass die Frau schön zu sein habe und der Mann etwas darstellen solle. Am Ende verläuft die Beziehung für sie aber sehr enttäuschend. Er wurde schließlich Alkoholiker.
Und wie hielt es Simone Weil mit der Liebe?
Wahrscheinlich gab es nur einen Mann in ihrem Leben und das war Jesus Christus. Dieses Verhältnis war unkörperlich, aber erotisch aufgeladen. Es gibt keine verbürgten Berichte darüber, dass sie erotische Verhältnisse mir irgendwelchen Männern oder Frauen gehabt hätte. Soweit wir heute sagen können, haben körperliche Beziehungen in ihrem Leben überhaupt keine Rolle gespielt. Das könnte damit zu tun haben, das sie einen starken Berührungsschmerz verspürte. Ihr tat es weh, wenn sie angefasst wurde. Für sie war nicht ein anderer Mensch, sondern ein transzendentes Prinzip der Ursprung der Liebe.
Die vier Frauen verkörperten also vier verschiedene Modelle des Liebens. Sie stehen für eine Mehrstimmigkeit der Antworten auf ein und dieselbe Frage. Für mich geht es beim philosophischen Gespräch nicht darum, einen Konsens anzustreben, sondern die Vielstimmigkeit von Antwortmöglichkeiten erfahrbar zu machen, die aus dem Sachverhalt resultiert, dass wir alle in unterschiedlich Kontexte gestellt sind und deshalb zu ein und derselben Frage ganz andere Perspektiven einnehmen.
Die Sichtweise von Simone Weil ist in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt.
In ihrem Fall gibt es drei Sperren, die ihrer breiten Rezeption im Wege standen. Die Linke tat sich schwer mit ihr. Als von der Gewerkschaftsarbeit beseelte Aktivistin war sie durch den Stalinismus desillusioniert worden und galt in kommunistischen Kreisen als Häretikerin. Als es in den 1960er Jahren um die Befreiung der Körper ging, wirkte ihre asketische Haltung befremdlich. Sie erinnert eher an eine heutige Gestalt wie Greta Thunberg, die in ihrer Unbedingtheit und Kompromisslosigkeit auch eine heilige Blindheit für ihre Sache hat.
Zweitens hat Weil, die selbst aus einer jüdischen Familie kam, das Judentum in ihren Schriften als problematischen zivilisatorischen Einschnitt geradezu gebrandmarkt. Es gibt bei ihr Passagen, die man heute nur noch antisemitisch nennen kann. Dadurch war sie für das jüdische Erbe verloren. Was nun drittens die katholische Rezeption betrifft, war sie dieser mit ihrem Interesse an den mystischen Traditionen anderer Weltreligionen wiederum nicht katholisch genug.
Warum lohnt es sich, die Autorin wiederzuentdecken?
Sie hatte, das habe ich beim Schreiben meines Buches erfahren, einen einzigartig klaren Zugang zu philosophischen Fragestellungen. Wenn Simone Weil ein Mann gewesen wäre, würden wir sie heute auf der gleichen Stufe wie Ludwig Wittgenstein sehen. Sie ist aber nicht nur vergessen, sondern systematisch verdrängt worden. In ihrem Aufsatz »Die Ilias oder das Poem der Gewalt« steckt auf nur 30 Seiten eine Menge von dem, was heute in der Black-Lives-Matter- und der Me-Too-Bewegung diskutiert wird. Aber so gut wie niemand liest diesen Text und die akademische Philosophie arbeitet nicht mit ihm.
Ich möchte denjenigen, die ich erreichen kann, empfehlen, Weil zu lesen. Bei ihr handelt es sich um einen der ganz großen Geister des 20. Jahrhunderts, dem wir nicht einmal annähernd gerecht geworden sind. Sie hat Dramen, Tagebücher und Sozialreportagen geschrieben, die es verdienen, gelesen zu werden.
Auch Beauvoir und Rand haben wenige akademische, dafür viele literarische Texte verfasst. Arendt sah sich selbst nicht als Philosophin, sondern als politische Theoretikerin.
Die Autorinnen weiten unseren Blick dafür, in welchen Genres Philosophie zu sich kommen kann. Das hat auch mit ihrer Entscheidung zu tun, sich als Frauen nicht dem direkten Konkurrenzkampf mit der zu ihrer Zeit noch rein männlich geprägten akademischen Philosophie an den Universitäten auszusetzen. Auch heute sind von dort keine neuen Anstöße für das Denken zu erwarten.
Woran liegt das?
Wer heute als junger Philosophierender an die Universität geht, dem wird dort die eigene Stimme stumm gemacht. Man lernt nicht, sein Denken eigenständig zu entwickeln, sondern wird darin trainiert, 20-seitige Fachartikel auf Englisch zu verfassen, also nicht in der eigenen Sprache. Noch nie gab es eine so große Zahl akademisch hochqualifizierter Philosophen, die zum gesellschaftlichen Diskurs so wenig Relevantes beizutragen hätten. Viele Dinge, die in den letzten 30 Jahren erschienen sind, werden in der Geschichte der Philosophie keine Spuren hinterlassen.
Es gibt diese nostalgische Endermüdung der Dekonstruktion, die 500 Mal die gleiche Geste wiederholt, ohne noch irgendeine Erkenntnis zu erzeugen. Auch die Kritische Theorie als Denkschule bringt keine überragenden Leistungen mehr hervor. Neue Anstöße für das philosophische Denken wird es sicher wieder geben. Aber sie kommen dann bestimmt nicht aus der Universitätsphilosophie, die als akademisches Karrieremilieu zu vorformatiert ist, als das hier ein innovativer Umschwung noch stattfinden könnte.
Anders steht es um die Tradition des philosophischen Romans. Es gibt die Bücher von Schriftstellern wie David Foster Wallace und Emmanuel Carrère, die sich sehr gut verkaufen. Ein Publikumsinteresse und damit einen Markt für diese Form der existenziellen Selbstbefragung gibt es also.
Konsequenterweise haben Sie selbst keine Hochschulkarriere gemacht.
Nach der Promotion wurde mir klar, dass ich nur wenige glückliche Individuen an der Universität treffe und die Hochschule mir nicht das bietet, was ich mir unter einer philosophischen Existenzweise vorstelle. Das führt natürlich auch auf das neue Buch zurück, denn die vier Frauen, mit denen ich mich dort befasse und die in sehr viel schwierigeren Situationen arbeiteten, als wir sie heute haben, zeigten außerhalb der Universität, was Philosophieren zu leisten vermag.
Und das wäre?
Ich würde Philosophieren als die Kunst bezeichnen, die eigenen Fragen ernst zu nehmen - also jene, von denen man das Gefühl hat, dass sie das eigene Leben leiten und entscheiden. Das ist eine Kunst, die ich nicht alleine betreiben kann. Als ich Student war, habe ich Hans-Georg Gadamer gefragt, was denn Philosophie sei. Er sagte, sie sei die »Kunst, Unrecht zu haben«, sich also für die Möglichkeit offen zu halten, dass die eigene Antwort auf die entscheidenden Fragen falsch sein könnte. Dabei spielt das Argument eine wichtige Rolle, aber nicht nur das Argument - hinzu treten erzählerische und poetische Verfahren. Wenn Sie beispielsweise sagen »Die Sonne sieht aus wie ein Spiegelei«, dann sehen Sie die Sonne auf eine neue Weise.
Und wie vollzieht sich dieser Wandel der Wahrnehmung?
Im Fall der Sonne jedenfalls nicht durch ein Argument, sondern das Entdecken und die Freilegung bisher verborgener Aspekte durch einfallsreiche Sprachverwendung. Die Auffassung, dass Philosophie auch diese Kraft hat, war noch nie so wenig verbreitet wie heute. Und das führt direkt auf ihre Akademisierung und also Verarmung zurück.
Wolfram Eilenberger: Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten. 1933-1943. Klett-Cotta, 400 S., geb., 25 €.
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