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Fehlanreize mit System
Gesundheits- und demokratiepolitische Überlegungen zur Covid-19-Pandemie in Deutschland
Die Bundesrepublik kämpft derzeit mit der zweiten Welle der Covid-19-Pandemie. Die größte Sorge dabei ist, ob alle Erkrankten, die einer intensivmedizinischen Beatmungstherapie bedürfen, diese auch tatsächlich bekommen werden. Um einen Gesundheitsnotstand abzuwenden, sind im Frühjahr 2020 in erheblichem Umfang die bürgerlichen Grundrechte eingeschränkt worden. Abermilliarden Euro werden aufgewendet, um das wirtschaftliche Leben aufrecht zu erhalten. Seither gilt es, einen vollständigen Lockdown abzuwenden. Er stellt das radikalste Mittel der Politik dar, die Ultima Ratio. Trotz der seit Anfang November geltenden erneuten Einschränkungen des öffentlichen Lebens verharren die zuvor stark gestiegenen Infektionszahlen weiter auf hohem Niveau.
Trotz aller persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Einschränkungen, die diese Maßnahmen bedeuten, ist auch in diesem Herbst das Regierungshandeln noch weitgehend akzeptiert. Grundrechtseingriffe müssen sachlich korrekt begründet und freiheitseinschränkende Anordnungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft werden. Deshalb müssen in die Problemanalyse auch Aspekte einbezogen werden, die in einer von virologischen und epidemiologischen Kenntnissen dominierten Risikobewertung keinen Platz finden. Gemeint sind hier die tiefer liegenden Ursachen des akuten Mangels an stationären Versorgungskapazitäten. Fehlten zu Beginn der Pandemie im Frühjahr Beatmungsgeräte und Intensivbetten, lieferte jetzt der allerdings auch damals schon akute Mangel an Fachkräften in diesem Bereich eine Begründung des Teil-Lockdowns. Woher dieser Personalmangel rührt, wird noch immer zu wenig thematisiert.
Im Zuständigkeits-Lockdown
Fraktionsübergreifend haben sich die Bundestagsabgeordneten bislang von ihren gesetzgeberischen und demokratischen Pflichten selbst suspendiert, indem sie mit der Billigung der erneuten Novellierung des Infektionsschutzgesetzes die Zuständigkeit für die Pandemiestrategie an die Regierung delegiert haben. Dennoch: Sie sind nicht von der Mitverantwortung für angemessene und zielführende politische Entscheidungen entbunden. Sie haben zu jeder Zeit die Möglichkeit, selbst Expertisen in Auftrag zu geben. Eigens dafür sind Fachausschüsse und andere Gremien des Bundestages vorgesehen. Aber die Mandatsträger*innen hielten sich mit alternativen Vorschlägen auffallend zurück. Aus den Parteien kamen ebenfalls keine abweichenden Analysen. Die parlamentarische Politik schickte sich selbst in einen Zuständigkeits-Lockdown. Diskursbestimmend waren lange Zeit einige wenige Wissenschaftler*innen einzelner Fachgebiete. So blieben viele wichtige Hinweise ungehört.
Dabei wiesen Krankenhausärzte schon sehr früh darauf hin, dass die Finanzierung der Kliniken über Fallpauschalen bzw. »Diagnosis Related Groups« (DRG) das größte Hindernis für eine bedarfsgerechte Covid-19- Behandlungsstrategie ist. Auch Palliativmediziner*innen sowie in Pflegeeinrichtungen und in Hospizen tätige Ärzt*innen wiesen frühzeitig auf Fragestellungen hin, die sich aus der Behandlungsaufnahme oder dem Verzicht auf Beatmungstherapie bei einzelnen Patient*innen ergeben. Wie bedeutend die Beachtung von Patientenverfügungen als Ausdruck unveräußerlicher Autonomie ist, wurde ebenfalls betont.
Aber die Parlamentarier*innen folgten einem anderen Kompass. Mit ethischen Fragen und verfassungsmäßigen Rechten befasste sich lediglich der Deutsche Ethikrat. In medizinischen Fachgesellschaften und von Medizinrechtler*innen wurden Handreichungen für die Behandlung Covid-19-Erkrankter erarbeitet. Intensivmediziner*innen betonten, die Versorgungssituation hierzulande unterscheide sich stark von der in Italien und Frankreich. Dennoch begründete die Politik ihre Entscheidung für den zweiten Lockdown mit dem inadäquaten Argument, es gelte angesichts steigender Infektionszahlen einen Zustand wie den im norditalienischen Bergamo zu verhindern, wo zu Beginn des Jahres Tausende starben. Und gesagt, nur mit einem 2. Lock-Down könne ein den Gesundheitsnotstand abgewendet werden.
In Wahrheit hat die Bundesregierung in der Pandemie offenkundig falsche Anreize gesetzt, die zusätzliche Probleme geschaffen haben. So betonte der Präsident des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten und Ärztlicher Direktor am Klinikum Ludwigsburg, gegenüber der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«(13.11.): »Ohne eine klare Verordnung der Regierung und ohne finanzielle Anreize wird es wahrscheinlich nicht gehen, denn eine Klinik, die keine Covid-Patienten aufnimmt und den Normalbetrieb zu hundert Prozent weiter macht, steht natürlich auch finanziell besser da.«
In dieser Aussage wird deutlich, dass der Hauptgrund für begrenzte intensivmedizinische Kapazitäten in den DRGs liegt, die für die Gewinnorientierung im stationären Versorgungssystem stehen. Vor allem private Klinikkonzerne profitieren von diesem »leistungsorientierten« Bezahlsystem. Denn tatsächlich gibt es also Kliniken, die gar nicht erst Covid-19-Patienten aufnehmen - und derzeit auch nicht dazu verpflichtet werden können. So kommt für die dort tätige Ärzteschaft ein ethisches Dilemma am Krankenbett gar nicht erst auf. Sie verweigern keinem konkreten Patienten die Behandlung. Nein, man zeigt Vollbelegung an, die sich aus dem Normalbetrieb ergibt.
Wirkungslose Millionenhilfen
Zwar hat Bundesgesundheitsminister Spahn (CDU) mit dem novellierten Infektionsschutzgesetz verfügt, dass freie Betten vorgehalten werden müssen - und die Erhöhung der Kapazitäten mit reichlich Geld bezuschusst. Doch dafür, dass diese Kapazitäten auch genutzt werden, hat er keine Handhabe. Es gibt freie Träger, die nach den Gesetzen des freien Marktes agieren.
Erst am 2. Dezember wurde im ARD-Magazin »Plusminus« dargelegt, dass die offizielle Zahl der im Intensivbettenregister verzeichneten Kapazitäten nicht der Realität entspricht. Denn viele Kliniken meldeten immer noch alle Betten und nicht, wie eigentlich vom Verband für Intensiv- und Notfallmedizin immer wieder angemahnt, diejenigen, die auch »bepflegt« werden können.
Ein Grund dafür: Die Bundesregierung bezuschusste seit dem Frühjahr jedes neu aufgestellte Intensivbett mit 50 000 Euro. Die Folge: Waren im April 22 000 Intensivbetten gemeldet, so wuchs die Zahl bis zum Sommer auf 32 000. Etwa 626 Millionen Euro erhielten die Krankenhäuser für die neuen Betten.
Auf Wirtschaftlichkeit getrimmt
Das Fallpauschalensystem existiert in Deutschland seit fast 18 Jahren. Die rot-grüne Bundesregierung setzte mit seiner Schaffung eine zentrale neoliberale Idee um und machte die Kliniken reif für den Wettbewerb. Es folgte die Übernahme vieler öffentlicher Krankenhäuser durch börsennotierte Konzerne. Seither ist das gesamte Versorgungsnetz auf Wirtschaftlichkeit ausgerichtet, hat sich der Staat aus wichtigen Bereichen der Daseinsvorsorge zurückgezogen. Wer an der stationären Sicherstellung teilnimmt, bestimmen heute eher die Krankenkassen und die expansionsfreudigen privaten Anbieter als die Politik.
Eine Folge in der Pandemie: Die Bevölkerung muss tiefgreifende Grundrechtseingriffe tolerieren, damit die Intensivstationen nicht überlastet werden. In der ersten Pandemiephase fehlte noch vorrangig technische Ausstattung, wie Beatmungsgeräte. Dieser Mangel wurde weitgehend behoben, doch das Fachpersonal ist weiterhin nicht vorhanden. Auch dieser Notstand ist eine direkte Wirkung des Systems der Fallpauschalen. Währenddessen kann der Staat in das äußerst komplex gewordene Gesundheitssystem nicht mehr direkt steuernd eingreifen. Darüber hinaus darbt wegen der allgemeinen Kostenbremse für Kommunen der gemeinwohlorientierte Gesundheitsdienst und kann seinen Aufgaben nicht nachkommen.
Andere Folgen des DRG-Systems konnte man während der ersten Pandemiephase beobachten: Private Großkliniken erwogen, Kurzarbeit anzumelden, weil via Infektionsschutzgesetz aufgefordert wurden, Betten für Covid-Kranke vorzuhalten, was Einnahmeeinbrüche bei lukrativen Spezialangeboten erwartet ließ. Und so arbeitet das Personal in Maximalversorgungskrankenhäusern und Unikliniken am Limit, während Private ganz legal die Pandemieerfordernisse ihren Gewinnerwartungen anpassen können.
Heute ist das Krankenhaus am profitabelsten, das mit minimalem Personaleinsatz maximale Fallzahlen generieren kann. Da die DRG, als sie eingeführt wurden, keine Vorschriften zur notwendigen Zahl von Pflegenden beinhalteten, fahren jene Kliniken an besten, die unterhalb des öffentlichen Tarifes bezahlen. Im Ergebnis hat Deutschland eine der niedrigsten Pflegepersonalquoten pro Bett in ganz Europa. Bereits vor dieser »Reform« wiesen Kritiker*innen auf die absehbaren Folgen hin - vergeblich.
Der von der Bundesregierung vermittelte Eindruck, eine mögliche Überforderung des Gesundheitssystems sei allein der Gefährlichkeit des Virus zuzuschreiben und es sei Sache der Bürger*innen, sich und andere durch das eigene Verhalten zu schützen, ist falsch. So unerlässlich Hygiene und Kontaktreduzierung sind: Es gäbe weit mehr wirksame Maßnahmen, die die Politik bei der Pandemiebewältigung anbieten kann.
Handlungsbedarf für Abgeordnete
So müsste zur Sprache kommen, dass das DRG-System seit Jahren Fehlallokationen sowie partielle Unter- oder Überversorgung hervorbringt. In der Pandemie wäre zu fragen, wie Fehlanreize gemindert werden können. Nur so kann mittelfristig verhindert werden, dass unter »Notstandsbedingungen« Covid-Kranken Beatmungsbehandlungen versagt bleiben. Die Mitglieder des Bundestages dürften unethische Entwicklungen im Gesundheitswesen, die zu Versorgungsengpässen führen können, nicht länger akzeptieren. Die Ausgangslage ist dabei hierzulande nach wie vor besser als in anderen EU-Staaten, in denen Ärzte angesichts übervoller Intensivstationen entscheiden müssen, wen sie behandeln können. Denn insbesondere Länder mit hoher öffentlicher Verschuldung und staatlichen Gesundheitssystemen wurden in der Vergangenheit mittels der Euro-Stabilitätskriterien zu Kürzungen und Kapazitätsabbau gezwungen.
Demgegenüber haben wir es in der Bundesrepublik vor allem mit systembedingt sehr unterschiedlicher Auslastung der Kliniken zu tun. Wir kämen insgesamt mit der Pandemie besser zurecht, wenn alle vorhandenen Kapazitäten in den Dienst des Allgemeinwohls gestellt würden. Darum muss das Parlament sich jetzt kümmern. Und dabei manches neu denken. Niemand beklagt, dass bei Rettungsdienst oder Feuerwehr »unrentable Vorhaltekapazitäten« finanziert werden. Für Pandemien müssen analoge Regelungen gelten. Der Bundestag könnte zeigen, dass er die ethischen und grundrechtlichen Fragen, die aus der neoliberalen Gesundheitsstrukturpolitik erwachsen sind, ernst nimmt. Die Abgeordneten haben beispielsweise die Möglichkeit, eine Enquetekommission einzurichten, besetzt paritätisch mit Fachleuten verschiedener Disziplinen und Parlamentarier*innen aller Fraktionen. Ein solches Gremium könnte Empfehlungen für den Gesetzgeber erarbeiten und zugleich könnte die Öffentlichkeit in die Debatten einbezogen werden. Das wäre aus demokratiepolitischer Perspektive ein sinnvolles Angebot. Das Parlament würde so seine Zuständigkeit für das Gemeinwesen unterstreichen.
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