»Wenigstens für eine Stunde in den Wald«

Die thüringische Grünen-Landtagsabgeordnete Madeleine Henfling erzählt, was sie nach ihrer Quarantäne politisch ändern würde

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 10 Min.

Zehntausende Menschen haben alleine in Thüringen in den vergangenen Monaten in Quarantäne gesessen. Bundesweit ist es mittlerweile eine siebenstellige Zahl. Weil sie selbst oder Familienangehörige positiv auf das Coronavirus getestet worden sind. Auch die Thüringer Grünen-Abgeordnete Madeleine Henfling und ihre Familie mit drei Kindern gehören zu denen, die das durchgemacht haben.

Wie in Corona-Zeiten nicht anders zu erwarten, führen wir das Gespräch am Telefon. Kurz nachdem Madeleine Henfling den Anruf entgegengenommen hat, ist im Hintergrund ein Kind zu hören, das von seiner Mama eine Tasse Kakao haben möchte. »Frag’ mal bitte Papa«, sagt Henfling zu ihrem Kind. Eine Sekunde später ist wieder eine - leiser werdende - Kinderstimme im Hintergrund zu hören. »Papa, Papa …«

Frau Henfling, wie ist die Stimmung bei Ihnen?

Tatsächlich erstaunlich gut. Wir haben natürlich kleinere Ausraster, vor allem unseres Zweijährigen, weil der seinen Bewegungsdrang nicht ausleben kann. Aber im Großen und Ganzen: Wir haben uns noch nicht wirklich hart in die Haare bekommen, auch wenn wir wirklich eng aufeinandersitzen. Dem anderen auch mal aus dem Weg gehen, wie man das sonst kann, ist nicht möglich. Es reicht jetzt auch langsam.

Wie kam es dazu, dass Sie in Quarantäne mussten?

Unser großer Sohn hat sich mit Corona infiziert. Am 14. November kam ein Anruf der Mutter einer seiner Mitschülerinnen, dass ihr Kind positiv getestet worden war. Dann ist unser Großer als Kontaktperson ersten Grades sehr schnell auch getestet worden. Der Test war dann - wie bei fast seiner halben Klasse - positiv. Das hieß für uns: Quarantäne und unseren Großen häuslich isolieren, was schon die erste Herausforderung für uns war. Denn wir haben nur ein Kinderzimmer. Also haben wir unser Arbeitszimmer ein bisschen kinderfreundlicher gemacht, damit er dort einziehen konnte. Den Großteil des Tages hat der Große dann all die Tage allein auf zehn Quadratmetern verbracht; was eine ziemliche Leistung ist, wenn man bedenkt, dass er erst elf Jahre alt ist. Seit Freitag immerhin darf er wieder das Haus verlassen. Wir anderen noch nicht.

Eine Familie, zwei Eltern, drei Kinder, zwei Lebensrhythmen in einer Wohnung. Seit dem 14. November geht das nun schon so. An diesem Tag ist die Familie von Henfling in die freiwillige Quarantäne gegangen. Nach dem positiven Corona-Test für den ältesten Sohn hat das zuständige Gesundheitsamt des Ilm-Kreises die Quarantäne dann am 17. November für alle Familienmitglieder verpflichtend angeordnet. Die Quarantäneanordnungen haben verschiedene Laufzeiten. Der nachweislich infizierte Sohn darf seit dem 27. November wieder vor die Tür. Mama, Papa und seine beiden Geschwister müssen noch bis zum 2. Dezember innerhalb der eigenen vier Wände bleiben.

Ihr Sohn hat sich also in der Schule angesteckt?

Das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Aber es ist sehr wahrscheinlich. Wir haben unsere privaten Kontakte massiv beschränkt. Unser Großer hatte in den vergangenen Wochen kaum Kontakte außerhalb der Schule. Es kann nur in der Schule passiert sein, auch wenn sich nicht genau sagen lässt, wer da das Virus genau wohin getragen hat.

Wie haben Sie es geschafft, dass sich die anderen Familienmitglieder nicht bei Ihrem großen Sohn angesteckt haben?

Das ist eine sehr gute Frage. Ehrlich gesagt, weiß ich das gar nicht genau, und es war wohl auch Glück dabei. Wir hatten ihn schon ein paar Tage vor der Quarantäneanordnung aus der Schule genommen, weil er Symptome hatte. In den vergangenen Monaten waren wir immer sehr streng: Wenn ein Kind auch nur Schnupfen hatte, ging es nicht in die Schule oder den Kindergarten. In dieser Zeit war ich dann drei Tage nicht zu Hause, weil im Landtag Plenartage waren. Mein Mann hat tagsüber gearbeitet und unsere anderen beiden Kinder waren in der Grundschule und im Kindergarten. Dadurch hatten wir keinen so langen Kontakt zu unserem Großen. Trotzdem überrascht es mich. Gerade unser Jüngster hat mit seinen zwei Jahren jetzt nicht das allergrößte Verständnis dafür, dass er nicht an Leute ran soll, die Erkältungssymptome haben.

Tragen Sie jetzt alle den ganzen Tag über Masken zu Hause?

Wir haben uns tatsächlich gleich FFP2-Masken bestellt, als die Diagnose da war. Die sind zum Glück schnell gekommen. Und wenn wir zu unserem Großen ins Zimmer sind oder er raus musste, dann haben wir die aufgesetzt. Ich frage mich, was Familien machen, die nicht die finanziellen Ressourcen haben, sich solche Masken mal schnell bestellen zu können. Es ist ja nicht so, dass man vom Gesundheitsamt oder von der Kasse solche Masken zur Verfügung gestellt bekommen würde. Man bekommt nur gesagt: Sie müssen Ihr Kind jetzt zeitlich und räumlich isolieren. Mir ist aber wirklich schleierhaft, wie das funktionieren soll, wenn Familien überhaupt nicht die Räume dazu haben oder wenn gleich mehrere Kinder betroffen sind. Oder es ein Kleinkind erwischt hat. Soll man das dann auch den ganzen Tag in ein Extrazimmer setzen? Unser Großer immerhin konnte alleine essen. Wir haben ihm sein Essen in sein Zimmer gestellt. Und er hat verstanden, dass er mit seinen beiden Geschwistern nicht spielen durfte. Wie das mit einem infizierten Kleinkind gelaufen wäre, ist mir ein Rätsel.

Wie hat Ihr jüngster Sohn auf das alles reagiert?

Es ist eine seltsame Situation gerade für ihn gewesen. Es hat auch ein paar Tage gedauert, bis er das akzeptiert hatte. Er wollte am Anfang natürlich immer in das Zimmer zu seinem Bruder und spielen. Da mussten wir auch mal zu drastischen Maßnahmen greifen. Da musste der Große von innen die Tür abschließen. Geschrei inklusive.

Der Alltag von Henflings Familie war vor der Corona-Quarantäne ziemlich lebendig. Henfling kommt als Abgeordnete viel herum. Die Kinder haben viele Freunde und waren vor der Quarantäne regelmäßig draußen. Ihre Kinderärztin, erzählt Henfling, sage immer: »Egal, wie kalt es ist: Angemessen anziehen und mit den Kindern wenigstens eine Stunde pro Tag raus.« In der Quarantäne ist diese Welt auf etwa 100 Quadratmeter geschrumpft. Weil die Familie in einer Dachgeschosswohnung voller Schrägen wohnt, ist die real zur Verfügung stehende Fläche noch kleiner. Immerhin gibt es neben einem Kinderzimmer, einem Arbeitszimmer, einer Wohnküche, einem Schlafzimmer und einem Bad noch einen Balkon.

Was war die größte Schwierigkeit im Alltag?

Beschäftigung zu organisieren, ganz klar. Die großen Kinder, die finden schon was: Die lesen ein Buch oder schauen einen Film, das geht schon. Aber ein Kleinkind den ganzen Tag zu beschäftigen, dass es ausgelastet ist, ist nicht ohne; vor allem nicht, wenn man nebenbei noch arbeiten muss, wie mein Mann und ich das ja auch noch machen. Wir arbeiten nun in der Küche, mittendrin, weil ja das Arbeitszimmer belegt ist. Was wiederum dazu führt, dass manche Videokonferenzen von Kindern gesprengt werden. Gott sei Dank können wir aber überhaupt viele Dinge im Homeoffice machen. Ich bin als Abgeordnete flexibel in solchen Sachen und auch mein Mann hat zum Glück einen toleranten Arbeitgeber, der vieles möglich gemacht hat. Trotzdem ist das schon hart. Jeder, der Kinder hat, weiß, wie anstrengend die sein können, wenn denen gar nichts mehr einfällt, womit sie sich beschäftigen können. Außerdem haben wir gerade bei dem Kleinsten sehr schnell gemerkt, dass er wegen der Quarantäne Schwierigkeiten hat, einzuschlafen. Das war bislang eigentlich ziemlich unkompliziert. Aber man merkt einfach, dass er nicht ausgelastet ist, dass er nicht müde ist am Abend. Mal auf den Balkon gehen, ersetzt Spielen im Wald nicht.

Wie haben Sie die Arbeit des Gesundheitsamtes in den vergangenen Wochen wahrgenommen? Als Landespolitikerin ist das für Sie ja seit Beginn der Pandemie ein zentrales Thema. Jetzt haben Sie die Mitarbeiter aus einer ganz anderen Perspektive erlebt.

Im Großen und Ganzen haben die eine gute Arbeit gemacht. Unsere Testergebnisse waren innerhalb von 24 Stunden da, und wenn wir eine Frage hatten, dann haben wir eigentlich auch relativ schnell - so nach ein, zwei Stunden - jemanden ans Telefon gekriegt. Ich will aber auch sagen: Das liegt bei uns am großen persönlichen Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und immer, wenn Dinge am persönlichen Engagement von Menschen hängen, läuft was falsch, weil es keine Automatismen gibt.

Dazu kommt: Bei wichtigen Sachen sind sogar denen die Hände gebunden. Ein Beispiel: Nachdem klar war, dass sowohl mein Mann und ich als auch unser Jüngster negativ getestet worden waren, wollten wir von der Amtsärztin die Genehmigung haben, dass einer von uns mit ihm mal wenigstens für eine Stunde am Tag raus darf. Nicht unter Menschen, aber in den Wald, von uns aus auch mit Mund-Nasen-Schutz. Wir wohnen direkt am Wald. Nur, damit der Kleine sich auspowern kann. Da war dann die Aussage der Amtsärztin, es gebe für eine solche Genehmigung keine Rechtsgrundlage, auch wenn sie unser Problem und unser Anliegen verstehe.

Also haben Sie es dabei bewenden lassen?

Klar, was sollten wir tun? Wir sind zwar irgendwann mal durch das gesamte Landratsamt verbunden worden wegen dieser Sache. Da hatten wir dann irgendwann mal jemanden vom sozialpsychologischen Dienst am Telefon. Der sagte uns: Gehen Sie halt einfach raus, lassen Sie sich nur nicht erwischen. Aber nicht nur, dass ein Verstoß gegen die Quarantäneanordnung strafbewehrt ist und richtig, richtig teuer werden kann. So was wäre auch verantwortungslos gewesen und kann nun wirklich nicht die Lösung sein.

Im Hintergrund des Telefonats hallt wieder ein bekannter Ruf durch den Raum: »Papa, Papa, Papa, Papa, Papa, Papa, Papa …«

Sie haben das Privileg, als Landtagsabgeordnete in gewissem Maße Einfluss auf die Corona-Verordnungen des Landes nehmen zu können. Immerhin steht die entsprechende Landesverordnung unter einem Parlamentsvorbehalt. Was würden Sie nach Ihrer eigenen Quarantäneerfahrung da ändern wollen?

Ich denke, wir brauchen eine Rechtsgrundlage, auf der die Gesundheitsämter kindgerechte Quarantäneregelungen anordnen können. Von mir aus als Ausnahmeregelungen, aber irgendwas muss da in Zukunft drin stehen. Da sind wir genau bei dem Problem, das ich gerade beschrieben habe. So eine Quarantäne ist doch immer auch eine Güterabwägung. Es nützt uns allen nicht, wenn diejenigen, die da zu Hause sitzen, am Ende noch kränker werden, als sie Corona ohnehin schon gemacht hat.

Und da sind wir in Thüringen in der Regel schon deutlich privilegierter als diejenigen, die zum Beispiel in Berlin zu fünft in einer Wohnung sitzen. Bei uns ist der Wald nie weit weg und da muss man niemandem begegnen. Also muss es doch möglich sein, dass Menschen, die in Quarantäne geschickt werden, auch mal das Haus verlassen dürfen, solange sie dabei sicherstellen, dass sie niemandem begegnen. Denn darum geht es doch bei der Quarantäne: keinen Kontakt zu anderen Menschen haben. Es geht nicht darum, drinnen zu sitzen.

Klingt ein bisschen, als wollen Sie eine Henfling-gerechte Regelung in die Thüringer Corona-Verordnung schreiben lassen; nur für den Fall, dass Sie nochmal in Quarantäne müssen …

Nein, gar nicht. Ich habe nur tatsächlich erlebt, was viele Familien durchmachen. Wenn man sich in diversen Foren im Netz umsieht, beschreiben da ganz viele Familien genau die Probleme, die wir auch haben. Es geht hier deshalb nicht so sehr um mich, sondern um die Familien, die so aussehen wie unsere, die so wohnen wie unsere und die auch in Quarantäne müssen. Und auch das nochmal: Es gibt Familien, die noch viel schlechtere Ausgangsbedingungen haben als wir; Familien, die unter noch viel beengteren Bedingungen leben, die nicht das Geld haben, einfach mal so FFP2-Masken zu kaufen.

Kann das Land das überhaupt regeln?

Das müssen wir prüfen. Aber wenn nur der Bund das kann, dann muss Thüringen die Änderung entsprechender Bundesregeln anstoßen. Die Probleme, die Familien in Quarantäne haben, sind doch im Grunde überall gleich. Dazu gehört übrigens auch, dass wir dringend über die Bescheide reden müssen, die die Gesundheitsämter verschicken. Wenn da zum Beispiel drin steht, dass man sich davor schützen soll, mit dem Sekret anderer Familienmitglieder in Kontakt zu kommen, dann freut mich das. Aber wie soll das bitte gehen, wenn Familien Kinder im Alter von ein oder zwei Jahren haben? Ein bisschen mehr Realismus beim Abfassen dieser Bescheide wäre wirklich toll - ganz abgesehen davon, dass es dringend, dringend nötig wäre, dass Gesundheitsämter überall in Deutschland bei gleichen Sachverhalten auch die gleichen Entscheidungen treffen. Noch so eine Baustelle …

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.