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Mit dem Fieberthermometer unterwegs im Slum
In Indien hat es das Coronavirus leicht, sich auszubreiten
In einer engen Gasse des Slums Lalbagh in Delhi richtet Shiv Kumari das Thermometer auf Kirans Stirn. Ohne direkten Kontakt mit dem jungen Mann zu haben, kann sie seine Temperatur messen. Das digitale Messgerät piept: 37 Grad, kein Fieber und damit höchstwahrscheinlich auch kein Corona. Shiv Kumari ist beruhigt. Jeden Tag zieht sie mit ihrem Fieberthermometer durch das Slum, in dem sie groß geworden ist. Rund 200 Mal am Tag misst sie bei Menschen aus ihrer Nachbarschaft die Temperatur und klärt sie darüber auf, wie sie sich vor einer Corona-Infektion schützen können. Als staatliche Gesundheitshelferin, die ehrenamtlich für die Hilfsorganisation World Vision arbeitet, will sie helfen, die Covid-19-Pandemie einzudämmen.
Indien ist nach den USA das Land mit den zweitmeisten Coronafällen. Rund 9,9 Millionen Menschen haben sich nach Angaben der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität in dem 1,3 Milliarden-Einwohner-Land bereits infiziert, mehr als 143 000 sind an oder mit dem Virus gestorben. Während die Anzahl der Neuinfektionen landesweit zuletzt sank, steigen die Zahlen in der Hauptstadt Neu-Delhi stark an. Ärzte befürchten, dass das marode Gesundheitssystem während einer dritten Coronawelle kollabieren könnte.
»Ich weiß, dass meine Arbeit gefährlich ist. Aber ich möchte helfen, dass es in meinem Viertel nicht zu einem schweren Ausbruch kommt«, sagt Shiv Kumari. Rund 2650 Haushalte hat die 42-Jährige in den letzten Monaten schon besucht. Um das Infektionsrisiko zu minimieren, betritt sie die Hütten nicht, in denen oft große Familien in einem einzigen kleinen Raum leben, sondern klärt an der Türschwelle auf. Vor allem für die Slumbewohner, die nicht lesen und schreiben können und sich Radio, Fernseher und Smartphone nicht leisten können, ist Shiv Kumari die wichtigste Informationsquelle.
Viele Bewohner von Lalbagh müssen sich teilweise mit Hunderten anderen eine öffentliche Toilette teilen. Als Tagelöhner, Fahrer, Hausangestellte, Verkäufer oder Fabrikarbeiter, die von der Hand in den Mund leben, können sie es sich nicht leisten, in ihren winzigen Hütten zu bleiben. Auch wenn Indien während der Pandemie das größte staatliche Lebensmittelverteilungsprogramm der Welt auflegte, müssen sie irgendwie ein paar Rupien verdienen.
Mindestens 1,5 Meter Abstand zu halten, ist dabei oft unmöglich. »Umso wichtiger ist es deshalb, in der Öffentlichkeit stets eine Maske zu tragen«, schärft Shiv Kumari den Slumbewohnern immer wieder ein. Wer es nicht tut und erwischt wird, muss zudem 2000 Rupien, umgerechnet 22 Euro, zahlen. Das Ordnungsgeld wurde zuletzt vervierfacht. »Am Anfang haben die Leute Corona sehr ernst genommen. Aber jetzt werden viele sorglos und unvernünftig. Dabei ist die Krankheit doch noch immer da und noch immer tödlich«, warnt Shiv Kumari.
Viele Krankenhäuser in Delhi stoßen deshalb bereits an ihre Kapazitätsgrenzen, Krematorien haben zusätzliche Öfen und Scheiterhaufen in Betrieb genommen. Trotzdem schaffen Bestatter es kaum, die vielen Coronatoten zu verbrennen.
Der Anstieg der Todesfälle in Delhi ist dramatisch, erstaunlich ist er nicht. Seit der schrittweisen Lockerung des strikten Lockdowns Anfang Juni sind Straßen und Märkte in der knapp 30 Millionen Einwohner zählenden und extrem dicht besiedelten Metropolenregion wieder rappelvoll. Während des hinduistischen Diwali-Festes Mitte November haben sich viele Großfamilien zum gemeinsamen Feiern getroffen. Verschärft wird die Situation durch fallende Temperaturen und die extreme Luftverschmutzung, die bei Coronapatienten oft zu einem besonders schweren Verlauf führt. Das rund um Delhi zuletzt Erntereste auf Feldern abgefackelt wurden und der Rauch auch nach Delhi zog, verschlimmert die Situation zusätzlich.
Auch Shiv Kumari spürt bei ihren täglichen Runden durch das Slum Lalbagh diese toxische Mischung. Identifiziert sie Menschen mit Symptomen, überweist sie sie ans nächstgelegene Testzentrum. Wird eine Corona-Infektion festgestellt, müssen die Infizierten sich in strenge Quarantäne begeben. Patienten mit einem besonders schweren Verlauf werden ins Krankenhaus eingeliefert. Die meist vollkommen mittellosen Menschen aus Lalbagh landen oft in einem der staatlichen, oft schlecht ausgestatteten Krankenhäuser. Wer es sich leisten kann und Glück hat, wird in das Sir-Ganga-Ram-Krankenhaus, eine der größten und besten privaten Kliniken, eingeliefert.
»Noch hat die dritte Welle uns nicht überrollt, aber wir sind am Limit. Die Ärztinnen und Ärzte und Pflegerinnen und Pfleger in Indien arbeiten seit neun Monaten rund um die Uhr. Über 700 von ihnen haben den Kampf gegen Corona schon mit dem Leben bezahlt. Gott sei Dank ist an unserem Krankenhaus noch kein Kollege schwer erkrankt oder gestorben«, sagt Dr. Suvirajh John, Chefarzt am renommierten Sir-Ganga-Ram-Krankenhaus.
Um sich während der Arbeit besser schützen zu können, hat der Chirurg sich wie viele seiner Kollegen von seinem eigenen Geld die bestmögliche Schutzausrüstung gekauft. »Als ich im April das erste Mal mit meinem Team jemanden operiert habe, von dem ich wusste, dass er Covid-19 hat und wir einem potenziell tödlichen Risiko ausgesetzt waren, waren wir trotzdem angespannt«, gibt der erfahrene Operateur zu. Mittlerweile sind lebensrettende Operationen von Covid-19-Patienten für ihn und seine Kollegen Routine.
Mit der weltweit größten Ausgangssperre versuchte Indien zu Beginn der Pandemie den Kollaps zu verhindern. Selbst China ist nicht so rigoros gegen die Ausbreitung des Virus vorgegangen. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft waren katastrophal, Staat und Hilfsorganisationen mussten Millionen Menschen mit Lebensmittelhilfslieferungen vor dem Verhungern retten. Doch die zunächst relativ geringen Infektions- und Todeszahlen schienen Premier Narendra Modi Recht zu geben.
»Der strikte Lockdown war notwendig, damit das Gesundheitssystem sich auf die Pandemie vorbereiten konnte und der Bevölkerung der Ernst der Lage klargemacht werden konnte. So haben wir uns besser als erwartet geschlagen. Unser Land hat mehr als 1,3 Milliarden Einwohner. In Relation sind unsere Infektions- und Mortalitätszahlen ziemlich gering«, sagt Dr. John.
Dr. Christian Wagner, Indien-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, zweifelt hingegen an den indischen Zahlen zu Corona. »In Indien wird deutlich weniger getestet als in Industriestaaten. Nach Schätzungen könnte die Dunkelziffer der Infizierten rund zehn mal so hoch wie die offizielle Zahl der Infizierten sein. Auch die Zahl der Todesfälle könnte deutlich höher sein, da viele Sterbefälle in Indien gar nicht offiziell erfasst werden«, sagt der Wissenschaftler.
Das öffentliche indische Gesundheitssystem bezeichnet er als »unzureichend« und in den ländlichen Regionen »oft nicht existent«. »Es wurde über Jahrzehnte zu wenig investiert. Mit diesem Gesundheitssystem kann man den Kampf gegen das Virus nicht gewinnen«, befürchtet Wagner. Rund 90 Prozent der Intensivbetten in Delhi sind derzeit belegt. Um eine Katastrophe zu vermeiden, hat das Innenministerium zuletzt angekündigt, Ärzte aus anderen Regionen in die Hauptstadt bringen zu wollen, die Testkapazitäten zu verdoppeln und weitere Betten auf Intensivstationen bereitzustellen.
Auch Dr. Suvirajh John glaubt, dass das indische Gesundheitssystem bald an seine Grenzen stoßen könnte. »Das Land und sein Gesundheitssystem haben sich in bewundernswerter Weise auf diese nie da gewesene Krise eingestellt. Aber wir wissen nicht, wie lange wir diesen Krieg noch kämpfen können«, sagt der Mediziner und fordert bei der Eindämmung der Pandemie mehr internationale Solidarität. »Die Welt wird diesen Kampf nur gemeinsam gewinnen - oder gemeinsam sterben. Wir leben auf einem globalisierten Planeten. Wenn heute jemand in China niest, kann es gut sein, dass deshalb einen Monat später jemand in Deutschland in Lebensgefahr schwebt. Das gilt natürlich auch andersrum«, warnt der Mediziner.
Auch wenn er einen weiteren Lockdown in Indien aus medizinischer Sicht für richtig halten würde, weiß er, dass weitere strenge Ausgangsbeschränkungen nicht durchsetzbar sind. »Die Leute müssen arbeiten können, um zu überleben. Mittlerweile sind viele fatalistisch und sagen: Wir arbeiten lieber und gehen das Risiko ein, an Corona zu sterben, anstatt zu verhungern«, sagt der Arzt.
Die meisten Menschen, mit denen Shiv Kumari auf ihren Rundgängen durch das Slum Lalbagh spricht, denken genauso. »Ich verstehe ihre Not«, sagt die dreifache Mutter. »Darum erkläre ich ihnen, wie sie sich vor einer Infektion schützen können, während sie versuchen, ihre Familien durchzubringen.«
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