Tauschen und Schenken in der Krise

In Katalonien werden mit solidarischem Handeln und Selbstorganisation soziale Corona-Folgen abgemildert

  • Ralf Streck, Barcelona
  • Lesedauer: 8 Min.

»So eine Schweinerei«, hallt es durch die Altstadt Barcelonas. Ein Obdachloser wühlt in Kartons, die sein Zuhause an der hinteren Seite der Kirche Santa Maria del Pi bilden. »Mein Schlafsack wurde geklaut«, schreit er seinen Frust über den kleinen Platz im »Barri Gòtic« (Gotischen Viertel). Der liegt in der pittoresken Altstadt und war vor der Franco-Diktatur (1939-75) nach dem »Unbekannten Milizionär« benannt und erinnert an die Verteidigung der Stadt gegen Francos Putschtruppen. Vermutlich hat den Schlafsack einer der vielen Obdachlosen gestohlen. Zwar scheint hier weiter meist die Sonne, doch sind die Tage kühl und die Nächte auch am Mittelmeer richtig kalt.

Menschen wie ihn trifft man nun in immer größerer Zahl in der katalanischen Metropole. Sie sind der deutlichste Ausdruck der explodierenden Armut. Die Wirtschaft in Spanien ist wie keine andere in Europa in der Coronakrise abgestürzt. Denn sie hängt stark am Tourismus, der eingebrochen ist. Cafés, Bars und Restaurants sind zwar derzeit geöffnet, doch wegen fehlender Gäste meist leer. So ist die Stimmung trübe. Und kommt es zu einer dritten Corona-Welle, vor der Experten schon warnen, ist mit einer baldigen Besserung nicht zu rechnen. Für die kommende Weihnachtswoche hat die Regierung Kataloniens auch schon wieder Verschärfungen in Aussicht gestellt.

Sogar die Flaniermeile Ramblas, wo sich sonst Touristen drängeln, ist leer. Hier stolpert man nun auch tagsüber auf in Decken gewickelte schlafende Obdachlose. Nachtlager finden sich an allen Ecken. Biegt man von der Promenade, die die Altstadt vom ärmeren, multikulturellen Viertel Raval trennt, in diese Richtung ab, nimmt die Zahl zu. »Steht auf, steht auf«, treiben Stadtpolizisten der »Guàrdia Urbana« drei Obdachlose aus Kartons und Schlafsäcken, die den Eingangsbereich eines geschlossenen Hotels als Unterschlupf nutzen. Da es bisweilen auch regnet, sind Arkaden, wie am fast ausgestorbenen Plaça Reial, gefragt.

Am Plaça del Pedro im Raval versammeln sich derweil Aktivisten. Nervös blicken Wachleute und Bedienstete des Sozialdienstes auf die größer werdende Schar. Sie befürchten eine Besetzung. Eine Verantwortliche sucht das Gespräch, wird beruhigt: »Nein, hier wird nichts passieren«, erklären die Aktivisten. Sie scharen sich um Juanita und ihren Mann. Denn der Protest richtet sich gegen deren geplante Zwangsräumung, die am 14. September zunächst verhindert wurde.

An diesem Tag begannen nach dem Corona-Moratorium wieder Wohnungsräumungen in Barcelona. »Jeden Tag sind allein in der Altstadt und im Raval etwa zehn angesetzt«, sagt Ana Moreno. »Es scheint, die verlorenen Monate sollen aufgeholt werden«, meint die Sprecherin von Raval Rebel. Die Organisation hilft mit anderen Menschen wie Juanita hier im »Barri«. Sie wurden schon vor der Krise oft aus fadenscheinigen Gründen aus der Wohnung geworfen, um Mieten drastisch erhöhen zu können. Derzeit wird vielen gekündigt, weil sie mit der Miete wegen Einkommensverlusten rückständig sind. Allerdings, so fügt Moreno an, werden nur wenige Räumungen umgesetzt. Viele Familien gingen »freiwillig«. In einigen Fällen werde über eine Mediation eine Lösung gefunden, andere würden von den Anwohnern verhindert.

Juanita, die ihren echten Namen nicht nennen will, ist ein besonderer Fall. Die 25-jährige Transsexuelle ist aus Marokko geflüchtet, da sie wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurde. Sie ist, anders als ihr Partner, als Flüchtling anerkannt. Das Paar gehört zu denen, die von ihren 600 Euro gemeinsamem Einkommen die Miete nicht mehr bezahlen konnten. Eine billigere Wohnung finden sie nicht. Homophobie oder Rassismus seien die Gründe, meinen sie. »Wir wurden bei Besuchen sogar schon tätlich angegriffen«, berichtet Juanita.

Den Vermieter machen sie nicht für die Räumung verantwortlich. Es ist kein Spekulant, sondern er ist selbst dringend auf die Mieteinnahme angewiesen. Die Aktivisten greifen deshalb die Stadtverwaltung an, die das Paar nicht als »verletzlich« anerkennt, um auf eine Liste mit dringenden Fällen für einen Ersatzwohnraum zu kommen. Über die »Regierung des Wandels« ist man besonders empört, schließlich steht ihr die linke Ada Colau als Bürgermeisterin vor, die einst nach der Finanzkrise 2008 noch als Aktivistin die Bewegung gegen Zwangsräumungen angeführt hatte. Das Ziel der Aktivisten ist das schicke städtische LGBTI-Zentrum in der Nähe, wo man sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen und Intersexuellen einsetzen will.

Das Gebäude wird besetzt, da auch die Verantwortlichen hier die Probleme des Paars ignoriert haben. »Hier ist der Trans-Widerstand«, skandieren lautstark drei Dutzend Aktivisten. Auf einer Pressekonferenz im Eingang wird das Verhalten des Zentrums und der Stadtverwaltung kritisiert und Hilfe für das Paar eingefordert, »das mehrere Diskriminierungsformen erleidet«. Nach einer Stunde beginnen Verhandlungen. Zwei Stunden später verpflichten sich die Verantwortlichen des Zentrums, eine Lösung für Juanita zu finden, woraufhin Raval Rebel die Besetzung beendet. Der Druck hat sich gelohnt. Dem Paar wurde ein Zimmer zugewiesen, die Räumung abgesagt. Gesucht wird nun nach einer Wohnung, da im Zimmer nicht gekocht werden kann. Zudem sollen Maßnahmen zur Integration, wie Sprachkurse und Arbeitssuche eingeleitet werden, berichtet Moreno.

Das sind die positiven Momente der Krise, die Menschen zum starken solidarischen Handeln bringt, da auf die Institutionen kein Verlass ist. Im Raval, wo Menschen aus vielen Ländern und Kulturen leben, findet sich auch die Stiftung Surt. Seit 1993 setzt sie sich für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von Frauen ein, um die Diskriminierung zu beseitigen. Betrieben wird vor allem deren »Empowerment«, um sie persönlich und ökonomisch über Kurse und Initiativen zu stärken, erklärt Angels Pujol. Ihnen würden Perspektiven aufgezeigt, um sich selbstständig zu machen oder um ihre Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu fördern, um ihre Autonomie zu vergrößern.

Die Corona-Krise geht auch an Surt nicht vorbei. Viele Frauen, die hier betreut werden, kamen vor allem im Lockdown in existenzielle Nöte: »Wir mussten im März eine Lebensmittel-Nothilfe schaffen, weil Teilnehmerinnen und ihre Familien plötzlich nicht mehr genug zu essen hatten«, erklärt Pujol, die Lebensmittelhilfe hier koordiniert. In der Spitze habe man 195 Frauen, insgesamt 550 Personen, unterstützt. »Das waren nur Surt-Frauen, niemand von außen«, zeigt sie auf, wie hart die Krise eingeschlagen hat. Die Lage habe sich etwas verbessert, da überlastete Behörden nun meist Kurzarbeitergeld auszahlen und einigen Frauen auch Sozialgeld zugestanden worden sei.

Zudem könne nun in Hotels, Cafés und Kneipen wieder gearbeitet werden. »Die Frauen verzichten dann sofort auf die Hilfe, damit sie eine noch bedürftigere Person erhalten kann.« Mit Zuwendungen der »Nahrungsmittelbank« werden von Surt noch immer 460 Personen unterstützt. Die Begünstigten würden zu verschiedenen Zeiten bestellt. »Hungerschlangen vermeiden«, wie sie sich zum Teil vor Verteilungsstellen der Caritas im ganzen Land bilden, ist die Devise.

Auf der anderen Seite der Ramblas verfolgt das Sozialzentrum des Gòtic »La Negreta« einen anderen Ansatz, wo sich Raval Rebel und andere treffen. Benannt ist das Zentrum nach Josepa Vilaret, die »die Schwarze« genannt wurde und vor 231 Jahren einen Brotaufstand anführte. Auch hier werden Nahrungsmittel verteilt, aber an alle Bedürftigen. Man setzt auf Hilfe zur Selbsthilfe und bindet die Betroffenen in die Organisation ein. Die junge Griechin Danai greift den - zumeist Frauen - bei der Verteilung »nur unter die Arme«. Es soll »Selbstorganisation« gefördert werden, zumal ehrenamtliche Aktivisten in der ersten Coronawelle schnell an ihre Grenzen stießen. »Wir begleiten die Leute nur, die mit Einkaufswagen am Samstag vor Supermärkten im Stadtteil die Menschen um Nahrungsmittelspenden bitten.« Frischware käme als Spende zu einem sehr günstigen Preis von Bauern. Die Lebensmittel werden jeden Donnerstag verteilt.

Zum solidarischen Handeln und Selbstorganisation greifen auch Selbstständige wie Nil Roca. »Da hier niemand Kohle hat, haben wir wieder Tauschhandel eingeführt«, erklärt der junge Mann. In einer Vereinigung haben sich mehr als 250 Selbstständige aus ganz Katalonien zusammengeschlossen. Bei Versammlungen von Vertretern der Lokalgruppen, »tauscht man Wein gegen Fleisch, Honig, Käse, Gemüse oder auch Werkzeuge, da auch Schmiede dabei sind«. Zur Selbstversorgung hat er neben dem noch improvisierten Weinkeller »Cellers de Madremanya« auch einen Gemüsegarten angelegt und Hühner angeschafft.

Roca stammt aus Barcelonas Altstadt. Inzwischen ist er Weinbauer in der Alt Empordà bei Girona. In der Gegend, die mit seinen Dörfern und Hügeln der Toskana ähnelt, erzeugt Roca seinen beliebten ökologischen »Follaraïms«. Da der vor allem an Restaurants geht, brach sein Umsatz fast komplett ein. Im Alarmzustand - der ersten Stufe der dreistufigen Ausnahmezustandsregelungen - erhielt er noch eine staatliche Unterstützung von 660 Euro im Monat und musste den Mindest-Sozialversicherungsbeitrag von 300 Euro im Monat nicht mehr bezahlen. Das ist seit Juni Geschichte, als eilig die wirtschaftliche Aktivität wieder hochgefahren wurde.

Seither schlägt er sich durch, versucht nötiges Geld durch Verkauf seines Weins über eigene Netzwerke aufzutreiben. Aus dem solidarischen Austausch entstand die Idee, den Weinkeller zu teilen. Dort wird alsbald ein Freund auch Bier brauen. »Von seiner Mietzahlung kann ich dann die Sozialversicherung bezahlen«, hat er ein Problem gelöst. Seine Lage wird sich auch deshalb mittelfristig nicht verbessern, da seine Reben wegen des feuchten Frühjahrs krank wurden, und er durch den Mehltau einen guten Teil seiner Ernte verloren hat. Leute wie er fallen im löchrigen Sozialsystem fast durch alle Raster. Aber der ideenreiche junge Mann, erwartet von einem Staat ohnehin nichts, von dem er unabhängig werden will.

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