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Gottesfurcht und Diesseitsfrage

500 Jahre nach Martin Luthers Traktat über die »Freiheit eines Christenmenschen«.

  • Fabian Lehr
  • Lesedauer: 7 Min.

Das Traktat »Von der Freiheit eines Christenmenschen« war nicht Martin Luthers erste reformatorische Schrift. Der Thesenanschlag an der Wittenberger Schlosskirche, der gemeinhin als Beginn der Reformation verstanden wird, fand drei Jahre zuvor statt, wenn er sich denn so zugetragen hat. Und auch in den Jahren danach hatte Luther mehrere Schriften verfasst, die seine Opposition zur katholischen Kirche begründeten.

Doch war das vor 500 Jahren erschienene Traktat ein Meilenstein: Hatte Luther zuvor den offenen Bruch mit dem Papst zu vermeiden gesucht und eine innere Reform der Kirche angestrebt, werden in »Von der Freiheit eines Christenmenschen« die theologischen Grundlagen der Macht des Papstes und aller katholischen Prälaten offen in Frage gestellt. Ein Kompromiss zwischen Luther und der katholischen Kirche ist von da an kaum noch denkbar, der Lutheranismus wird zu einer eigenständigen Konfession.

Der Autor
Fabian Lehr, Jg. 1987, lebt als linker Publizist in Wien. 2017 erschien sein Buch »Der Bauernkrieg: Antifeudale Revolution in Deutschland«. Er schreibt hauptsächlich für verschiedene Online-Medien.

Zentrales Thema dieser Schrift ist die Frage, wodurch die Menschen die Gnade Gottes und damit die Erlösung ihrer Seele erlangen können. Die Antwort der katholischen Kirche darauf lautete: Dadurch, dass sie die biblischen Gebote erfüllen, beichten und sich gehorsam gegenüber den Priestern zeigen, die ihnen für die Absolution ihrer Sünden Bußübungen abverlangen: Fasten, endlose Gebete, Wallfahrten, Opfergaben. Wenn ich diese und jene Regel befolge und bei Zuwiderhandlung diese und jene auferlegte Buße tue, wird Gott mich als Belohnung für meine Pflichttreue erlösen.

Dabei ist der Klerus notwendig als irdischer Vermittler zwischen Gott und den Menschen. Der Priester bedarf es nicht nur, um den Menschen darzulegen und in Erinnerung zu rufen, welche Gebote und Regeln Gott uns gegeben hat, sondern auch, um bei Verfehlungen - die infolge der Erbsünde jeder Mensch begeht - kraft ihres Amtes Vergebung zu erwirken durch Spende der Absolution und die Festsetzung von Bußen.

So legitimierte die Kirche seit jeher ihre Position als feudale Ausbeutungsinstitution, die von den Zwangsabgaben der Bauernschaft üppig lebte. Dieser Lehre zufolge verprasse der Klerus nicht einfach, was er den Bauern abnehme, sondern leiste eine gesellschaftlich notwendige Aufgabe. Nur durch die Vermittlung der Kirche könnten Menschen Gottes Gnade und das ewige Leben gewinnen: Was ist schon ein Zehntel der Ernte, wenn dafür das Paradies winkt?

Luthers Traktat entzieht diesem System nun die theologische Grundlage: Menschen erlangen Erlösung nicht dadurch, pedantisch einen Regelkatalog einzuhalten oder auf priesterliche Anordnung zu beten, zu fasten oder zu pilgern, sondern allein durch ihren persönlichen Glauben, ihr Vertrauen in Gott. Dass man sich die Seligkeit quasi erkaufen könne - sei es durch die kirchlich vertriebenen »Ablassbriefe«, die wohl am Anfang von Luthers Häresie standen, sei es durch rituelle Handlungen oder von Priestern gespendete Absolution -, dass es demzufolge nicht zuerst um innerliche Gottesfurcht gehe: darin sah Luther geradezu eine Verhöhnung Gottes.

All diese Praktiken, das war Luthers Gedanke, erzeugten allenfalls äußerliche Frömmelei, wiesen aber keinen Weg zur Läuterung. Wer im Herzen kein Gottvertrauen trägt, wird dieses auch durch Betroutinen und Spenden nicht gewinnen. Umgekehrt braucht, wer fest glaubt und aufrichtig ein tugendhaftes Leben anstrebt, keine äußerlichen Rituale. Daraus folgt aber: Es braucht keinen Klerus als abgesonderte Kaste, um zwischen Gott und Menschen zu vermitteln. Diese Individualisierung des Glaubens war keine theologische Spitzfindigkeit, sondern ein Angriff auf die ideologische Grundlage von Macht und Ausbeutungswirtschaft der Kirche. Hier war keine Verständigung mit dem Papst mehr möglich. Dieser drängte nun die deutschen Fürsten, den Reformator als Ketzer hinzurichten und seine grassierende Irrlehre auszurotten.

Denn offenbar traf Luther einen Nerv. »Von der Freiheit eines Christenmenschen« war ein Bestseller, der nach damaligen Maßstäben in ungeheuren Auflagen verbreitet wurde. Im ganzen deutschsprachigen Raum und bald auch darüber hinaus wurde dieser und wurden andere Texte Luthers den Flugschriftenhändlern aus der Hand gerissen. Wo Luther persönlich auftrat, wurde er auf der Straße gefeiert. In jedem Dorf fand sich jemand, der lesen und vorlesen konnte, überall diskutierte die Masse der Bevölkerung über Luthers Thesen und zog oft revolutionäre Folgerungen. Bauernschaft wie städtisches Bürgertum feierten Luther als Propheten ihrer Befreiung. Stand in dem Traktat nicht der unerhörte Satz »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan«?

Diese Massenstimmung war einer der Faktoren, die Luther vor dem Scheiterhaufen retteten. Auch der erzkatholische Kaiser Karl V. musste einsehen, dass es ohne Bürgerkrieg kaum möglich war, die neue Lehre einfach auszumerzen. Päpstliche Sendboten berichteten, die Stimmung in Deutschland sei so aufgeheizt, dass sie kaum gefahrlos als solche auftreten könnten. Der zweite Schutzwall um Luther war indes das Interesse von Landesherren. Für diese bot die reformatorische Bewegung zwei Vorteile: Erstens stand die Kirche bis dahin zu den weltlichen Feudalherren in Ausbeutungskonkurrenz: Je mehr der Klerus den Bauern und städtischen Bürgern abnahm, desto weniger blieb für die Fürsten. Zweitens untergrub die Kirche mit ihrem Machtzentrum in Rom die Autorität der langsam entstehenden modernen Staatsapparate. Solange ein Fürst Rücksicht auf eine Institution jenseits seiner Reichweite nehmen musste, war er nur halb souverän. »Reformierte« er sich aber, konnte er sich selbst zum Herrn seiner Landeskirche machen und nicht zuletzt auf Kirchengüter zugreifen. So stellte der Kurfürst von Sachsen Luther unter seinen Schutz, der Landgraf von Hessen und andere Fürsten folgten. Bald war halb Deutschland protestantisch.

Luther und seine Bewegung mussten sich also entscheiden: Zwischen einer sozialrevolutionären Bauernschaft, die in der Reformation den Beginn geistlicher wie politischer Emanzipation sah und protestantischen Aristokraten, die eine Gelegenheit zur Ausdehnung ihrer Macht und Autorität sahen. Die Wahl fiel nur wenige Jahre nach dem Freiheitstraktat auf die Letzteren. Als im Großen Bauernkrieg in Deutschland Hunderttausende zu den Waffen griffen, um die Tyrannei der Kirche und weltlicher Ausbeuter mit Gewalt zu beenden, distanzierte sich Luther in glühenden Schriften aufs Schärfste und forderte die Fürsten auf, den Aufstand erbarmungslos niederzuwerfen. Der Prediger Thomas Müntzer hingegen, der Luther im Sinne der Aufständischen verstand, wurde gefoltert und hingerichtet - und ist bis heute eine theologische Unperson.

Hatten die Aufständischen, deren Lesefähigkeit und Theologiekompetenz sicher Grenzen hatte, Luther falsch verstanden? In der »Freiheit eines Christenmenschen« steht gleich hinter jenem spektakulären Satz ein weiterer: »Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« Im Grunde ist hier angelegt, was Luther in weiteren Schriften gegen den Aufstand ausbreitet: Freiheit ist Sache des »Geistes«, Gehorsam Sache des »Leibs« - wobei die Politik zur leiblichen Welt gehöre. So schlägt der Sinn des Textes ins Zynische um: Du kannst im Leben ausgebeutet und erniedrigt sein - und trotzdem »innerlich« frei!

Theologische Spitzfindigkeiten um diese »zwei Reiche« oder »Regimenter« füllen Bibliotheken. Doch historisch entschied sich der Lutheranismus für die Macht. Beflissener Gehorsam, Demut und Bescheidenheit: Er wurde zur Herrschaftsideologie protestantischer Fürsten und installierte gegen seine frühen Impulse einen hierarchischen Klerus. Weil er das ferne Rom ausschaltete, passte er später besonders gut zum Nationalismus.

Der liberale, grünliche Gestus in Teilen des heutigen deutschen Protestantismus ist eher Ausnahme als Regel. Im Weltmaßstab ist der Protestantismus im Ganzen nicht minder reaktionär als der katholische Pol des Christentums. Im heutigen Lateinamerika etwa stehen die sich ausbreitenden »bibeltreuen« und »wiedergeborenen« Glaubensgemeinschaften - die zum evangelischen Lager zählen, wenn auch nicht ganz in lutheranischer Version - oft besonders weit rechts, in Brasilien mobilisierten sie offen für Jair Bolsonaro. Progressive christliche Antworten auf die Frage nach menschlicher Würde und Freiheit im Diesseits kommen dort eher aus der Befreiungstheologie, die auf katholische Armenpriestertraditionen zurückgeht.

Doch auch im hiesigen Protestantismus ist die zynische Lesart der »zwei Reiche« bis heute sehr präsent: Nicht nur der Katholik Horst Seehofer kann das Ertrinkenlassen von Menschen bestens mit seinem Glauben vereinbaren. Auch sein evangelischer Vorgänger Thomas de Maizière konnte gegen das Kirchenasyl kämpfen und zugleich auch noch als protestantischer Würdenträger amtieren - unter ausdrücklichem Bezug auf Martin Luther. Und dieser hätte dem braven Kirchgänger wohl nicht widersprochen, auch im Jahre 1520 nicht.

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