Als die Apfelplantagen in Borthen Volkseigentum waren

Wie die Bodenreform vor 75 Jahren einen sächsischen Agrarbetrieb prägte.

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Äpfel sind geerntet, die Blätter gefallen. Kahl und in langen Reihen stehen die Apfelbäume in den Plantagen, die sich rund um Borthen auf gewelltem Land erstrecken. In der Ferne sind die Sandsteinmassive der Sächsischen Schweiz zu sehen, im Tal schlängelt sich die Elbe. Ihr neigen sich hier im Hochland südlich von Dresden die Hänge zu, mit der Folge, dass frostkalte Luft abfließt. Zusammen mit dem fruchtbaren Lößboden sind das gute Bedingungen für den Obstanbau in dem Gebiet südlich von Dresden.

Viel Obst, sagt Klaus Griesbach, wurde in der Region schon angebaut, seit Sachsens Kurfürst August im 16. Jahrhundert Brautleute verpflichtete, zur Hochzeit zwei Obstbäume zu pflanzen. Später zahlte der Fiskus zeitweise Prämien, wenn Apfel-, Birnen- oder Kirschbäume gesetzt wurden. Dass Boskop, Elstar & Co. aber nun fast alle Agrarflächen um Borthen besetzen und in weitläufigen Plantagen intensiv kultiviert werden, liegt maßgeblich an der Landwirtschaftspolitik der DDR und ihren Ursprüngen in der Bodenreform, die vor gut 75 Jahren in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) begann. Indiz dafür ist der Name, den der regionale Obstbaubetrieb bis 1991 trug: VEG Borthen, also: »Volkseigenes Gut«. Klaus Griesbach war dort zuletzt stellvertretender Leiter.

Die Bodenreform begann im ersten Herbst nach Ende des Zweiten Weltkriegs; die Verordnung dafür wurde in Sachsen am 10. September 1945 beschlossen. Gemeinhin gilt sie als groß angelegte Umverteilung, bei der Ackerflächen von Großgrundbesitzern an Kleinbauern und Landlose übertragen wurden. Betriebe mit mehr als 100 Hektar wurden dabei ohne Entschädigung enteignet. Das veränderte vor allem im Norden der Besatzungszone die Agrarstruktur grundlegend. In Mecklenburg-Vorpommern wurden gut 52 Prozent der Agrarflächen beschlagnahmt und verteilt. In Sachsen waren es nur 23 Prozent. Hier gab es weniger große Güter; »die Landwirtschaft war seit jeher kleinteiliger«, sagt Manfred Uhlemann, der Hauptgeschäftsführer des Landesbauernverbandes Sachsen.

Der Großteil der Flächen wurde parzelliert und verteilt, zum Beispiel an Menschen wie die Eltern von Griesbachs heutiger Lebensgefährtin. Diese mussten in Folge des von Nazideutschland ausgelösten Krieges ihre Heimat im heutigen Polen verlassen, erhielten durch die Bodenreform aber knapp zehn Hektar Land im Hochland bei Dresden. Auf den Neubauernstellen seien auch Häuser errichtet worden, »mit Material aus der zerstörten Stadt«, sagt Griesbach. Der Neuanfang gestaltete sich indes schwierig. Es gab lediglich ein Pferd und »ganz primitives Gerät«, wie Griesbach sagt: »Das waren schwere Jahre.« Kein Einzelfall: Bis Juli 1949 habe jeder zehnte Neubauer wieder aufgegeben, heißt es in einer Studie des Historikers Arnd Bauerkämper zur Bodenreform. Auch wirtschaftliche Erwägungen führten dann zur Kollektivierung in der DDR-Landwirtschaft, die offiziell im Sommer 1952 begann und ein Jahrzehnt später beendet war. In Borthen stand dafür die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) »Vorwärts«.

Der groß angelegte Obstbau in der Region wurzelt indes auch in einem anderen Ergebnis der Bodenreform. Ein Teil der eingezogenen Flächen in der Sowjetischen Besatzungszone wurde nicht aufgeteilt, sondern vergesellschaftet. Das betraf Saat- und Viehzuchtbetriebe, Baumschulen, Stadt- oder Lehrgüter. Sie wurden zunächst den Provinz- und Landesverwaltungen unterstellt. Andere Güter konfiszierte die Besatzungsmacht, um ihre Soldaten zu versorgen. In der Borthener Flur betraf dies das gut 170 Hektar große Gut Gamig, das seit 1900 einer Dresdner Fabrikantenfamilie gehört hatte, sowie das Rittergut Röhrsdorf, das bis 1945 im Besitz der Familie von Carlowitz war. All diese Güter wurden später »Volkseigene Güter«. 1949, als der Begriff geprägt wurde, lag ihre Zahl bei rund 500. Die Betriebe, die noch vor Gründung der DDR einer zentralen »Vereinigung Volkseigener Güter« unterstellt wurden, bewirtschafteten anfangs 177 000 Hektar, 2,7 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Sowjetischen Besatzungszone. Mit der Gründung der VEG sei eine »entscheidende gesellschaftliche, rechtliche und materielle Voraussetzung für die Herausbildung des volkseigenen Sektors« in der ostdeutschen Landwirtschaft geschaffen worden, heißt es in dem 2009 von Klaus Schmidt herausgegebenen Band »Landwirtschaft in der DDR«, zu dem auch Klaus Griesbach einen Aufsatz beisteuerte.

Manche dieser VEG bestanden von Gründung der DDR bis zu deren Ende. In Borthen und Umgebung waren die Wege etwas verschlungener. Neben den beiden Gütern, die zunächst der Versorgung der Roten Armee gedient hatten, bildeten sich verschiedene LPG, die teils nur wenige Mitglieder hatten und wegen fehlender Wirtschaftlichkeit bald in anderen Genossenschaften aufgingen. Zudem bestanden in der Region noch Gärtnerische Produktionsgenossenschaften (GPG). Etliche dieser Betriebe bauten Obst an; fünf davon errichteten Anfang der 1970er Jahre bereits ein gemeinsames Obstlager.

Zu dieser Zeit erlangte die Zusammenarbeit eine neue Qualität. 1972 fasste der DDR-Ministerrat einen Beschluss, der die Selbstversorgung des 17 Millionen Einwohner zählenden Landes mit Obst vorsah. Vorangegangen, sagt Griesbach, sei ein Besuch führender Politiker und Experten in der zu den großen Obstbauregionen gehörenden Sowjetrepublik Moldawien, der inspirierend gewirkt habe. In der DDR sollten zehn Großbetriebe mit je 1800 bis 2700 Hektar Anbaufläche entstehen. Borthen war einer davon. Ziel sei es gewesen, die Apfelproduktion in der Region auf 30 000 Tonnen anzuheben. Dazu gründeten mehrere Betriebe zunächst eine »Kooperative Abteilung Obstproduktion« (KAO), die später in ein Volkseigenes Gut überführt wurde. Ein maßgeblicher Faktor, schreibt Griesbach in seinem Aufsatz, seien die Eigentumsverhältnisse bei den Ackerflächen gewesen. Üblicherweise bewirtschafteten die LPG Flächen, die ihre Mitglieder bei Eintritt in die Genossenschaft eingebracht hatten. Nicht selten handelte es sich um das Land, das ihnen im Zuge der Bodenreform zugeteilt worden war. Der neu entstehende Betrieb in Borthen dagegen verfügte über einen »relativ großen Anteil volkseigener Flächen«, die »aus den inzwischen aufgelösten volkseigenen Gütern stammten«. 1978 entstand ein neuer derartiger Betrieb, das »VEG Obstproduktion Borthen«.

Dieser arbeitete in einer deutlich anderen Liga als die kleinen Landwirtschaftsbetriebe, wie sie im Zuge der Bodenreform 30 Jahre zuvor gebildet worden waren: Höfe von fünf bis zehn Hektar, die nach Angaben von Bauerkämper im Jahr 1955 rund 45 Prozent der Agrarbetriebe in der DDR ausmachten. In den späteren Jahren vollzog sich dann aber eine rasante Industrialisierung. Die KAO in Borthen hatte zunächst 400 Hektar bestellt; jährlich wurden 100 bis 300 Hektar neu aufgepflanzt. Es wurden derart viele Bäume benötigt, dass Importe selbst aus Belgien, Holland und Frankreich notwendig waren. 1978 verfügte das VEG über fast 1600 Hektar Plantagen, zehn Jahre waren es 1770 Hektar, plus 108 Hektar Hopfen.

Die Erntemengen waren enorm und stellten das Gut vor logistische Herausforderungen. 1988 mussten über 25 000 Tonnen Äpfel geerntet werden, knapp 700 Tonnen Süß- und 3300 Tonnen Sauerkirschen, knapp 800 Tonnen Erd- sowie 28 Tonnen Himbeeren. Zeitweise seien über 1000 Erntehelfer benötigt worden: Schüler und Studenten, Soldaten, Verwaltungsmitarbeiter, Betriebskollektive. Bei Erdbeeren sei »das Beherrschen der Kultur am schwierigsten« gewesen, sagt Griesbach: Die Früchte mussten binnen kürzester Zeit geerntet und in die Läden transportiert werden. Generell versorgte das VEG Borthen große Teile des Bezirks Dresdens. »Den heutigen Anspruch ›regional‹ haben wir damals erfüllt«, sagt Griesbach. Das politische Ziel der Selbstversorgung zumindest mit heimischem Obst, fügt er hinzu, »hatte die DDR schon nach fünf Jahren umgesetzt«.

Anderen Ansprüchen wurde sie aber nicht gerecht, was 1989 zu ihrem Ende führte. Für die Agrarbetriebe begann eine schwere Zeit voll Unsicherheit. Sie mussten bis Ende 1991 in neue Rechtsformen überführt sein und sich in einem harten Markt behaupten; dazu kam die Vermögensauseinandersetzung mit LPG-Mitgliedern, die Ansprüche auf ihre Äcker geltend machten, sowie die Ungewissheit, ob Bodenreformflächen an die ehemaligen Eigentümer zurück übertragen werden müssen. Entsprechende Klagen früherer Gutsbesitzer wies das Bundesverfassungsgericht jedoch 1991 und 1996 ab.

Auch das VEG Borthen wurde privatisiert. Es entstanden sieben Obstbaubetriebe, einer davon der »Obsthof Griesbach« am Anger von Borthen, den Klaus Griesbach vor einiger Zeit an einen seiner Söhne übergeben hat. Der Start sei äußerst schwierig gewesen, sagt er; unter anderem wegen des Mangels an Kapital für nötige Investitionen. Es gab aber einige günstige Umstände. 1991 gab es in ganz Europa große Frostschäden; in Borthen aber konnte man ernten - und erzielte gute Preise. Und hilfreich waren auch noch einmal die besonderen Umstände der Bodenreform. Bei vielen Flächen mussten die neuen Betriebe die Eigentümer erst mühsam überzeugen, damit sie diese pachten durften. Flächen der früheren Volkseigenen Güter indes fielen an die Bodenverwertungs- und -verwaltungsgesellschaft (BVVG) des Bundes - die sie in Borthen den neuen Obstbetrieben langfristig zur Pacht überließ. Das, sagt Griesbach, sei eine Sicherheit gewesen, »das Erste, was wir hatten«. Und also die Voraussetzung dafür, dass in Borthen weiter köstliche Äpfel gedeihen.

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