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Türkei intensiviert Angriffe auf Rojava
Artilleriebeschuss und Bodenattacken auf die nordsyrische Frontstadt Ain Issa und die Schnellstraße M4 - Garantiemächte Russland und USA halten sich zurück
Droht in Nordsyrien eine erneute türkische Invasion? Die türkische Armee und mit ihr verbündete syrisch-islamistische Milizen verstärken zumindest derzeit ihre Angriffe auf Rojava. Im Fokus der an Intensität zunehmenden Auseinandersetzungen liegt die nordsyrische Kleinstadt Ain Issa. Seit Ende November steht der Ort unter heftigem Artilleriebeschuss. Die von der Türkei unterstützten Milizen der »Syrischen Nationalarmee« versuchen derweil auch am Boden, Geländegewinne zu erzielen. Nach Angaben des unabhängigen, aber der Selbstverwaltung nahestehenden Rojava-Informationszentrums hat mittlerweile rund die Hälfte der Einwohner die Stadt verlassen. Die umliegenden Dörfer seien weitestgehend leer. Auch in einem umliegenden Lager untergebrachte Flüchtlinge würden in anderen Städten nach Schutz suchen. Von den Vertreibungen seien demnach rund 10 000 Menschen betroffen. Die Militärallianz der multiethnischen Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDK/Englisch: SDF) versucht, die Region zu verteidigen.
Dass gerade Ain Issa im Zentrum der Angriffe steht, ist keine Überraschung. Die Kleinstadt hat eine große strategische Bedeutung, da sie sich in direkter Nähe zur im vergangenen Jahr eroberten Besatzungszone der Türkei befindet. Zudem grenzt der Ort an die bedeutende Schnellstraße M4, die durch Nordsyrien verläuft und die selbstverwalteten Gebiete Cizîrê und Firat miteinander verbindet, wie auch die Großstädte Aleppo und Mossul. Der Verkehr zwischen den nordsyrischen Städten Kobanê, Manbidsch und Qamischli ist ohne die Nutzung dieser Straße sehr erschwert. Ain Issa beherbergt ebenfalls mehrere Institutionen der Selbstverwaltung.
Die internationale Gemeinschaft reagierte bisher kaum auf die Angriffe. Russland und die USA riefen alle Seiten zur Mäßigung auf, verzichteten aber sonst auf eine Intervention. Beide Staaten sind Garantiemächte für Waffenstillstandsabkommen, die jeweils mit der Türkei für Nordsyrien abgeschlossen wurden. Im Oktober 2019 hatten sich Washington und Moskau mit Ankara darauf geeinigt, dass die Türkei eine rund 120 Kilometer breite und 30 Kilometer tiefe Besatzungszone in Nordsyrien errichten darf. Rund 200 000 Menschen mussten wegen des völkerrechtswidrigen Einmarsches fliehen. Russland und die Türkei führen seitdem gemeinsame Militärpatrouillen in der Grenzregion durch, auch die USA zeigen am Boden Präsenz.
In Ain Issa sind seit der Invasion russische Militärpolizisten sowie Einheiten des Assad-Regimes stationiert. Nach Angaben des Rojava-Informationszentrums obliegt die Kontrolle der Stadt jedoch nach wie vor den Kräften der Selbstverwaltung. »Es gab keine Übergabe, die Präsenz der SDK bleibt unverändert«, erklärte das Medienzentrum am Montag. Zuletzt wurden aber gemeinsam mit Russland und dem Regime mehrere Beobachtungsposten an der Front errichtet, um die Einhaltung der Waffenstillstandsabkommen besser kontrollieren zu können. Sporadischen Beschuss der Region durch die Türkei hatte es in den vergangenen Monaten immer wieder gegeben - meist ohne Konsequenzen.
Die lokale Bevölkerung scheint auch jetzt wenig Vertrauen in den Willen der internationalen Mächte zu besitzen, den militärischen Ambitionen Ankaras Einhalt zu gebieten. Dokumentationen der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zeigen, wie Mitte Dezember Anwohner von Ain Issa vor einer russischen Militärbasis gegen die wahrgenommene Untätigkeit des Landes protestierten.
»Ankara will die Region erobern«
Der Politologe Ferhad Ibrahim Seyder befürchtet weitere kriegerische Auseinandersetzungen in Nordsyrien
Politiker der nordsyrischen Selbstverwaltung gehen davon aus, dass die Angriffe nicht zufällig zunehmen. »Der Astana- und der Genfer Friedensprozess sind in eine Sackgasse geraten und blockiert. Das hat eine politische Lücke geschaffen«, sagte jüngst die stellvertretende Vorsitzende der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Emine Osê, gegenüber der kurdischen Nachrichtenagentur ANF. Ein weiteres politisches Vakuum sei durch die Präsidentschaftswahlen in den USA entstanden. »Es geht darum, die Haltung der internationalen Mächte zu testen«, so die Politikerin. Der türkische Staat lote momentan aus, ob er auch mit einem größeren Angriff durchkommen könne.
Laut Emine Osê würden dazu Russland und die syrische Regierung die Lage ausnutzen, um den Druck auf die Selbstverwaltung zu erhöhen. Beide Kräfte hatten bereits in der Vergangenheit türkische Invasionsandrohungen aufgegriffen, um Zugeständnisse und Gebietsübergaben zu fordern. Moskau dürfte zudem ein Interesse daran haben, dass die Türkei Kräfte aus der Provinz Idlib abzieht, um sie gegen die Selbstverwaltung einzusetzen. Ob Russland und die USA der Türkei letztlich grünes Licht für eine neue Invasion geben, ist unklar. Als sicher gilt dagegen die Bereitschaft Ankaras für einen weiteren Eroberungsfeldzug in Nordsyrien.
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