»Ankara will die Region erobern«

Der Politologe Ferhad Ibrahim Seyder befürchtet weitere kriegerische Auseinandersetzungen in Nordsyrien

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 5 Min.

Vor ein paar Tagen hat die türkische Armee die Kleinstadt Ain Issa in Nordsyrien angegriffen - unter Verletzung eines gültigen Waffenstillstands. Wie schätzen Sie die Kriegsgefahr in Nordsyrien ein angesichts dieser Situation? Denken Sie, die Türkei bereitet eine Invasion vor?

Das Ziel wird Ain Issa sein und die weitere Kontrolle der Straße M4, die von der Provinzhauptstadt Al-Hasake bis nach Aleppo führt. Davon hat die Türkei schon 120 Kilometer unter ihre Kontrolle gebracht, bis Ras Al-Ain und östlich davon an der Grenze bis Al-Darbasiyah. Also diese ganze Linie hat die Türkei schon besetzt, und ich denke, man wird Ain Issa über kurz oder lang besetzen. Es sei denn, die russische Regierung will deutlich machen, dass sie nicht bereit ist, Ain Issa der Türkei zu überlassen.

Ferhad Ibrahim Seyder
Der emeritierte Professor für Politische Wissenschaft lehrte an der Universität Erfurt und ist ein Experte für den Nahen Osten. Bis vor kurzem leitete Ferhad Ibrahim Seyder die Mustafa-Barzani-Arbeitsstelle für Kurdische Studien an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. 

Welche Rolle spielt Russland in diesem Konflikt?

Ich betrachte Russland und Syrien als eine Kraft oder Allianz im Konflikt in dieser Region. Das heißt, wenn Russland Ain Issa für sich beansprucht, bedeutet das automatisch, dass die syrischen Truppen von Präsident Baschar Al-Assad in Ain Issa stationiert würden. Es gab einige Versuche, aber es ist nicht ganz gelungen, weil die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDK, englisch SDF) die Bedingungen Russlands nicht akzeptieren wollen. Russland will, das die SDK-Truppen die Region Ain Issa verlassen, und zwar vollständig; die syrische Regierung und Russland würden dann die Kontrolle übernehmen. Vielleicht wäre das ja für die Bevölkerung die bessere Lösung. Die Türkei würde wieder die sogenannte Nationale Syrische Armee mitbringen, und was sie in Ras Al-Ain veranstaltet haben, in den besetzten Gebieten, das ist ja nicht sehr erfreulich.

Wenn man die Entwicklung der türkischen Offensive beobachtet seit der Eroberung Afrins vor mehr als zwei Jahren, dann ist das strategische Ziel klar: Die Türkei hat immer gesagt: »Wir werden die Selbstverwaltung nicht tolerieren.« Und man vergleicht die SDK mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK, was faktisch nicht wahr ist. Das Ziel ist, die gesamte Linie von Afrin bis zur irakischen Grenze unter ihre Kontrolle zu bringen, Stück für Stück. Man hat Afrin, Tell Abyad, und jetzt will man strategisch die Kontrolle über die M4 übernehmen, mindestens bis Ain Issa, und zwischen Kobane und den östlichen Regionen der Selbstverwaltung deutlich trennen. Die nächsten Ziele könnten Kobane sein, wenn die Alliierten zustimmen würden.

Wie schätzen Sie die Position der USA in dieser Situation ein?

Es gibt einen Akteur, der sich nicht bewegt. Das sind die USA. Die Türkei hat die Situation ausgenutzt - der eine Präsident muss gehen und der neue ist noch nicht an der Macht -, und die USA, das ist sehr auffällig, haben keine Position bezogen. Die SDK hatte gedacht, dass die USA von den Erfahrungen in Ras Al-Ain gelernt haben und nicht zulassen werden, dass die Türkei weiter Richtung Osten marschiert bis zur irakischen Grenze. Aber alle Beobachter sind sich einig, dass die USA sich nicht bewegen. Das ist das dritte Mal, dass die USA die SDK alleine lassen. Und Russland hat andere Interessen. Sie wollen nicht irgendjemanden beschützen. Russland will vielmehr Macht. Ihr Ziel ist, dass die syrische Regierung die Macht dort übernimmt - oder zumindest dort auch eine Rolle spielt. Ich bin pessimistisch. Wenn die Dinge so bleiben, könnte es sein, dass die Türkei im Namen der Nationalen Syrischen Armee weiter Krieg führt und den Druck intensiviert, sodass Ain Issa fallen muss. Es gibt nur einen Faktor, der dagegen spricht: Wenn Russland die Ziele der Türkei entschieden zurückweist.

Verfolgt die Türkei langfristige strategische Interessen?

Die Türkei hat in den letzten Tagen immer wieder mit schwerer Artillerie die Region beschossen und die Angehörigen der islamistischen Gruppen, also der Syrischen Nationalarmee, versuchten, einige Positionen zu besetzen, aber ohne Erfolg. Die Lage ist noch nicht entschieden. Strategisch ist es klar, dass die Türkei versucht, die gesamte Region zu erobern. Ain Issa ist wegen seiner geostrategischen Lage sehr wichtig, um die Straße M4 unter die Kontrolle der (pro)türkischen Kräfte zu bringen und einen Keil zu treiben zwischen Kobane und den östlichen Teilen der Selbstverwaltung. Das Ziel ist letztlich die Beseitigung der Selbstverwaltung und die Kontrolle der gesamten Grenzregion. Wenn der syrische Konflikt beigelegt wird, will die Türkei daraus Vorteile ziehen. Im Irak haben wir einen zweiten Konfliktherd. Dort ist die Türkei auch beteiligt, um den Einfluss der PKK einzuschränken, und um sich in Konkurrenz mit dem Iran einen Platz im Irak zu sichern. Dabei geht es auch die Zufuhr von Erdöl.

Was sollte die Bundesregierung in dem Konflikt machen?

Ich denke, Deutschland sollte versuchen, Druck auf die Türkei auszuüben, damit sie nicht weiter die Region unter Druck setzt und kriegerische Auseinandersetzungen nicht eskalieren lässt.

Spielt der Iran auch eine Rolle in dem Konflikt?

Iran unterstützt immer die Position der syrischen Regierung, egal was passiert. Aber ich glaube, der Iran ist nicht in der Lage, sich zu beteiligen. Der Iran und die Türkei haben ein sehr komisches Verhältnis: Einerseits kooperieren sie, aber die Sicht beider Staaten auf den Konflikt ist nicht die gleiche. Bisher ist es aber nicht zur Konfrontation gekommen, auch im Irak nicht. Beide brauchen einander als Handelspartner.

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