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Luft nach oben für linke Proteste
Ein Rückblick auf linke Sozialproteste im vergangenen Jahr und worüber die Bewegungen nachdenken müssen
Eigentlich sind die Ausgangsbedingungen für eine sozialpolitische Mobilisierung in der Coronakrise gar nicht schlecht. Laut »Polit-Panel« der Universität Freiburg vom November 2020 stieg die Zustimmung für die Einführung einer Vermögensabgabe für Reiche seit Ausbruch der Pandemie in Deutschland um mehr als 5 Prozentpunkte auf rund 56 Prozent. Der Mietendeckel bietet ein Beispiel wie durch das Zusammenspiel einer starken (Mieter-)Bewegung mit einer rot-rot-grünen Regierung, eine Umverteilung von oben nach unten realpolitisch umgesetzt werden kann.
Eine Zusammenarbeit linker Gruppen mit den unteren Klassen gelang im Sommer bei den Streiks der Erntearbeiter des Spargel- & Erdbeerhofs Ritter in Bornheim bei Bonn. Durch die Unterstützung der anarchosyndikalistischen FAU konnten viele Erntearbeiterinnen ihre Ansprüche auf Lohnauszahlungen durchsetzen, die ihnen der insolvente Betrieb zuvor verwehrte. Ein Grund zur Hoffnung ist die 2020 zu beobachtende Annäherung der Klimagerechtigkeitsbewegung mit den Gewerkschaften. Als die Beschäftigten im öffentlichen Dienst im Herbst während der zähen Tarifgespräche die Arbeit niederlegten, rief Fridays for Future zur Unterstützung der Gewerkschaft Verdi auf. Die Kundgebungen zur Unterstützung der Streikenden blieben jedoch klein.
Nur geringen Zulauf verzeichneten die Versuche von Stadtteilgruppen unter dem Motto »Nicht auf unserem Rücken« und #jetzterstrecht in ärmeren Vierteln zu mobilisieren. Die Kontaktbeschränkungen in der Pandemie stellen die Basisarbeit in Nachbarschaften und Betrieben vor große Herausforderungen. Sie lebt von spontanen Begegnungen und dem direkten Austausch auf der Straße. Die digitale Welt bietet dafür nur einen schlechten Ersatz und stellt gerade für ältere Menschen eine große Hürde da.
Diese Erfahrung mussten zu Beginn der Pandemie auch viele Mieterinitiativen machen. Nicht zuletzt deshalb konnte das Bündnis »Mietenwahnsinn« in Berlin nicht an seine Erfolge aus dem Jahr 2019 anschließen, wo es knapp 40.000 Menschen auf die Straße brachte. Die Mietendemonstration im Juni blieb verhältnismäßig klein. Ausgehend vom Klassencharakter der Corona-Krisenpolitik mobilisierte das neu gründete Bündnis »WerHatDerGibt« im September mit radikal-reformistischen Forderungen nach Umverteilung mehrere Tausend Menschen in fünf Städten. Ein Schulterschluss mit Milieus über die linke Szene hinaus gelang ihm jedoch nicht.
Ein Versuch den rechtsoffenen Querdenkern an Silvester mit einer breiten Mobilisierung die Show zu stehlen, scheiterte an internen Unstimmigkeiten darüber, ob eine Großdemonstration mitten in der zweiten Welle zu vermitteln sei. Die Streiks der Beschäftigten bei Amazon im Weihnachtsgeschäft stießen kaum auf Resonanz.
Der erneute Lockdown offenbart das Dilemma der gesellschaftlichen Linken. Sie will die Pandemie und die hohen Todeszahlen ernst nehmen, gleichzeitig aber die Kritik an den staatlichen Maßnahmen zugunsten des Kapitals nicht allein den Rechten überlassen. Gerade das linksliberale Milieu übt sich oftmals in stillschweigendem Gehorsam gegenüber dem Staat. Dabei wäre eine linke Kritik an der sozialen Schieflage der staatlichen Hilfen und am Primat der Lohnarbeit, das mit einer Einschränkung sozialer Kontakte in der Freizeit bezahlt wird, dringend notwendig.
Gerade im Lockdown wird der Klassencharakter der Gesellschaft besonders deutlich. Er trifft die unteren Klassen in beengten Wohnverhältnissen hart. Umso mehr führt das Versammlungs- und Böllerverbot an Silvester in den ärmeren Nachbarschaften zu Unverständnis. Viele Niedriglöhner können ihre Arbeit nicht ins Homeoffice verlagern und sind am Arbeitsplatz erhöhten Infektionsrisiken ausgesetzt. Anders als im Frühjahr gibt es im zweiten Lockdown kein Kündigungsmoratorium bei Mietschulden. Für viele kleine Gewerbetreibende, Kulturschaffende und Gastronomen dürften die erneuten Schließungen der Todesstoß sein.
Sollte sich tatsächlich ein breites, linkes Bündnis für die absehbaren Auseinandersetzungen um die Verteilung der Krisenkosten im kommenden Jahr formieren, darf es vor einer Kritik am Staat nicht zurückschrecken.
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