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Der Puppendoktor von Prenzlberg

Ob Bauklotz, Barbie oder Matchboxauto, in Onkel Philipps Spielzeugwerkstatt gibt es alles, was das Kinderherz begehrt. Hier findet gebrauchtes Spielzeug ein neues Zuhause, kaputtes wird repariert.

  • Anna-Lena Schlitt
  • Lesedauer: 7 Min.

Ich suche Darth Vader!« Erwartungsvoll wandert der Blick des Mädchens durch Onkel Philipps Spielzeugwerkstatt. Vor ihr: Spielwaren - soweit das Auge reicht. Sie stapeln sich in Regalen, platzen aus Schränken und wachsen wie Berge aus dem Boden. »Darth Vader ist leider ziemlich selten«, antwortet es aus dem Getümmel. »Aber schau mal, hier ist Chewbacca. Oder wie wär’s mit R2-D2?« Fröhlich grinsend streckt Onkel Philipp dem Mädchen zwei Lego-Figuren entgegen. Sie strahlt.

Onkel Philipp heißt eigentlich Philipp Schünemann. Doch mit seiner runden Brille, der ausgebeulten Kapuzenjacke und dem freundlichen Lächeln hat der 51-Jährige durchaus etwas Onkelhaftes. In seinem kunterbunten Spielzeugladen im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg gibt es alles, was das Kinderherz begehrt. Puppenhäuser und Kuscheltiere, Holzeisenbahnen, Kräne und Blechspielzeug türmen sich bis unter die Decke. Mitten im Gemenge fliegen Ernie und Bert in einem Heißluftballon, Pittiplatsch haut auf einem knallroten Miniklavier in die Tasten und Barbie fährt Trecker.

»Eigentlich ist nach Nikolaus immer Totenstille«, sagt Philipp. Doch heute bimmelt das Glöckchen über der Tür beharrlich. Seit Stunden warten auf einem kleinen Tisch in der Ecke zwei Kirschmarmeladenbrötchen und ein mittlerweile kalter Pott Kaffee. »Zweites Frühstück«, erklärt Philipp. Doch zum Essen kommt er wie immer nicht. Kaum hat er sich hingesetzt, öffnet sich schon wieder die Tür: »Hast du einen Globus?« Ein schneller Bissen, schon ist er hinter dem nächsten Regal verschwunden auf der Suche nach dem gewünschten Erdball.

Grund für den Ansturm: der nahende Corona-Lockdown vor Weihnachten. »Eine absolute Katastrophe für Einzelhändler«, Philipp klingt besorgt, »insbesondere im Spielwarengeschäft«. Die Tage kurz vor Weihnachten sind für den Händler normalerweise die umsatzstärksten im Jahr. Nun hofft er auf schnelle, unbürokratische Corona-Hilfen wie im März - und nutzt die letzten Tage vor dem Lockdown, um seine Kundschaft mit Weihnachtsgeschenken zu versorgen. Wie es im Januar weitergeht, weiß er noch nicht, aber er versucht sich in Optimismus: »Geburtstagsgeschenke werden immer gebraucht!«

»Ich müsste den Karton dafür noch irgendwo haben«, murmelt Philipp und gräbt sich durch die Schränke. Neuware: eine Seltenheit. Denn fast alles, was es bei ihm zu kaufen gibt, ist gebraucht - »der Umwelt wegen«, nickt er bestimmt. Über Haushaltsauflösungen und Spenden finden die Spielzeuge den Weg in seinen Laden. Und ob Sammlerstück, abgegriffen oder ganz abgelebt - Onkel Philipp findet für alles eine Verwendung. »Hauptsache es landet nicht auf dem Müll!« Was nicht mehr zu retten ist, dient als Ersatzteillager. Dieser Onkel verkauft nämlich nicht nur Spielzeug, er repariert es auch.

Philipp ist kein ausgebildeter Puppendoktor. Nach seinem Umweltingenieursstudium entscheidet er sich gegen die Karriere bei Siemens und für den eigenen Laden. »Meine Eltern haben mich für bekloppt geklärt«, lacht er. Doch für ihn ist damals schon klar: Das Tüfteln und Basteln mit Spielzeug ist genau sein Ding. Begonnen hat alles mit einem ferngesteuerten Auto, erzählt Philipp. Er verpasste der Rostlaube eine neue Karosserie, einen besseren Motor - und entdeckte dabei seine Leidenschaft.

1997 erfüllt er sich schließlich seinen Traum. Onkel Phillips Spielzeugwerkstatt öffnet ihre Türen. In den ersten Jahren wohnt Philipp noch in seinem Laden. »Da war mein Hochbett«, erinnert er sich und deutet unter die Decke, wo sich heute meterhoch Spielwaren stapeln. »Und da hinten meine Werkstatt.« Doch das ist längst Geschichte. Mittlerweile läuft der Laden - die Werkstatt hat er nach Brandenburg ausgelagert. Sonntags und montags bekommen hier Puppen neue Arme und elektrische Autos einen neuen Motor.

Während Philipp an der Werkbank bohrt und klebt und sägt, tollen seine Kinder durch ihr persönliches Schlaraffenland. Da landet schon mal ein rot gelockter Puppenkopf zwischen den Sägespänen. Seine Tochter kichert. Für den Lockenkopf gibt es ein Happy End - für einen anderen hat der Werkstattbesuch kein gutes Ende genommen, erzählt Philipp. Bei einer missglückten Augen-OP zersprang der Puppenkopf in tausend Teile. »Halb so wild«, winkt er ab. Im Lager nebenan sitzen Porzellanpuppen neben Barbies, batteriebetriebene Technikwunder neben dem Klassiker im Rüschenkleid. Mittendrin eine Kiste voll »Organspenderinnen«, wie Philipp sie nennt. Die Puppe bekommt einen neuen Kopf.

Sind die Spielzeuge repariert, geht es zurück in Philipps Laden. Dort warten sie dann geduldig auf ihre neuen Eigentümer*innen. Vom Kleinkind bis zum alten Mann - die meisten Kund*innen verfallen beim Anblick von Philipps Sortiment in andächtiges Staunen. Begleitet von selig-quietschenden »Ahs« und »Ohs« und »Schau mal das«, taumeln sie durch die schmalen Gänge zwischen Bücherstapeln und Kuscheltierbergen. »Das ist das Beste an dem Job«, schmunzelt Philipp.

Das Telefon klingelt. Eine Kundin aus Konstanz ist am Telefon. Sie sucht nach einem seltenen Vogel-Spielzeug. Anfragen wie diese kommen aus ganz Deutschland: Sammler*innen fragen nach Raritäten, Eltern wollen den Lieblingsteddy des Kindes reparieren lassen. Und Philipp? Der durchforstet seinen Laden nach dem Herzenswunsch, kramt nach Ersatzteilen, flickt Kaputtes zusammen und schickt das heiß ersehnte Päckchen nach Süddeutschland - bis an den Bodensee.

Wer das Spielzeug nicht kaufen möchte, kann es bei Onkel Philipp auch einfach ausleihen. Der Warenwert wird als Kaution hinterlegt, die tägliche Leihgebühr beträgt ein Fünfzigstel des Kaufpreises. Genutzt wird das Angebot etwa von Großeltern. Steht der Enkelbesuch vor der Tür, schleppen sie Carrera-Bahnen, Puzzles und Bauklötze nach Hause. Sind die Kleinen wieder weg, kehrt das Spielzeug in Philipps Regale zurück. Vor allem sind es jedoch Filmproduktionsfirmen, die auf das Angebot zurückgreifen. »Die statten damit ganze Kinderzimmer aus«, lacht Philipp. Schöner wäre natürlich, es würde tatsächlich jemand damit spielen.

Tür geht auf: »Hallo Philipp!« - Stammkundschaft. Andreas kommt fast jeden Tag. Zielstrebig steuert er die Playmobilfiguren an. »Ich habe die Königin entkrönt!« Schelmisch grinsend deutet er auf eine kleine Figur im royalblauen Kleid. Sie trägt jetzt einen Piratenhut. Andreas schnappt sich den Piraten neben der Königin und fängt an zu spielen. Dieser muss sich dem Angriff des Riesenkraken nun ohne Hut erwehren. »Kann ich mal das Katapult haben?«, fragt plötzlich ein kleiner Junge. »Klar!« Versunken spielen sie weiter. Bevor er geht, schnappt sich Andreas noch ein Federballset. Seine Tochter habe es gerade für sich entdeckt, erzählt er. »Das wird eine Überraschung!«

Philipp lebt von seiner Stammkundschaft. Das zeigt sich gerade jetzt - in der Corona-Krise. »Noch bin ich nicht existenziell bedroht«, sagt Philipp. Froh über die regelmäßigen Besuche ist er trotzdem. Nach Andreas kommt Günther, auf Günther folgt Nachbarin Maria und dann kommt noch die Frauengruppe mit dem Therapiehund. Ein kleiner Plausch hier, ein Witzchen da - Philipp nimmt sich Zeit für seine Kundschaft. »Ich stress mich da nicht«, sagt er.

Wer besonders viel Zeit mitbringt, kann dem DDR-Spielzeugmuseum im Keller einen Besuch abstatten. Für eine Ostmark (oder einen Euro) geht es für Besucher*innen eine schmale Wendeltreppe hinab in die Tiefe. Unten ist es noch enger als im Laden. Selbst gebaute Puppenhäuser stehen neben Baukästen, Autorennbahnen und Motorbooten. Ein Kasperltheater mit Sandmann, Igel und Wolf dreht sich auf Knopfdruck. »Alles aus DDR-Zeiten!« Das Sammeln habe sich so aus der Not heraus ergeben, erzählt Philipp. Nach der Wende konnten die meisten Ostdeutschen dem »alten Kram« herzlich wenig abgewinnen. Heute hat vieles davon Sammlerwert.

Doch das ist dem begeisterten Spielwarenhändler egal: Er vergibt die Preise nach Gefühl. In einem Korb warten ein Zauberstab, eine Schweinsnase aus Gummi und ein quietschgelber Bauarbeiterhelm auf ihre Preisschilder. »Alles Neuzugänge«, erklärt Philipp. Früher hat er die Flohmärkte noch selbst nach Schätzen durchkämmt. Heute kommen sie direkt vor seine Tür.

Mit einem leisen Klingeln kündigt sich neuer Besuch an. »Bist du Philipp?« Ein junger Mann hievt einen großen Umzugskarton vom Gepäckträger seines Fahrrads. Er hat das alte Lego-Spielzeug seines Sohns dabei. Gemeinsam wühlen sich die beiden Männer durch die bunten Steine. Ob darunter wohl Darth Vader ist?

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