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Opfer des BRD-Systems
Erich Passarge vom Gewerkschaftsbund FDGB saß von 1957 bis 1960 in Kassel im Gefängnis
Der Berliner Erich Passarge ist 96 Jahre alt und leidet unter Gleichgewichtsstörungen. Nachdem er sich vom Sofa erhoben hat, hält er sich ein paar Sekunden am Tisch fest, um abzuwarten, ob ihm schwarz vor Augen wird. Dann geht er zum Wohnzimmerschrank, öffnet eine Schublade und zeigt die dort aufbewahrten Auszeichnungen. Darunter befinden sich der Vaterländische Verdienstorden in Silber und die Fritz-Heckert-Medaille. Die hat er erhalten, nachdem er 1960 nach drei Jahren Haft in Kassel aus dem Gefängnis frei kam und in die DDR zurückkehrte. Wie es dazu kam? Diese wahre Geschichte ist ein echter Agententhriller. Doch darin spielt nicht Passarge die Rolle des Agenten, stattdessen sein Hauptbelastungszeuge, der vor Gericht eingestehen musste, dass er den Angeklagten für den westdeutschen Verfassungsschutz bespitzelte und dafür 150 D-Mark im Monat kassierte.
Passarge möchte seine Geschichte erzählen. Es geht ihm dabei aber nicht um sich selbst. »Ich habe mein Leben gelebt.« Es geht ihm darum, an die Opfer des BRD-Systems im Kalten Krieg zu erinnern. So wie er sind Ende der 1950er Jahre mehr als 330 Bürger der DDR in der Bundesrepublik inhaftiert worden - ganz zu schweigen von den Bundesbürgern, die als Mitglieder der 1956 verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) ins Gefängnis gesteckt wurden. Aber das gerät langsam in Vergessenheit.
Anlass, sich beim »nd« zu melden, war für Passarge ein am 25. November in der Zeitung erschienener Bericht über eine Studie zur sozialen Lage von Opfern der politischen Verhältnisse in der DDR, die im Land Brandenburg leben. »Arme Opfer des DDR-Systems« lautete die Überschrift dieses Berichts, in dem unter anderem geschildert wird, dass einige Opfer noch Jahrzehnte danach von ihren Erinnerungen gequält werden. Das kann Passarge sehr gut verstehen. Auch er wacht nachts - 60 Jahre nach seiner Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt Kassel - manchmal schweißgebadet auf und glaubt im ersten Moment, er liege in seiner Zelle. Der 96-Jährige bestreitet nicht, dass es Menschen gibt, denen in der DDR Unrecht geschah. Diese haben sein Mitgefühl. Er wünscht sich aber, dass die Opfer der anderen Seite nicht vergessen werden, denen ebenfalls Unrecht angetan wurde.
Denn was war sein Verbrechen? Er reiste als Mitarbeiter der Westabteilung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) alle vier Wochen für einen Monat nach Hessen und suchte dort das Gespräch mit Arbeitern, wie die deutsche Einheit möglich gemacht werden könnte, obwohl Kapitalismus und Sozialismus wie Feuer und Wasser sind. Doch wie sagte damals Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) zu Kompromissvorschlägen: »Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb.«
Während seiner Einsätze wohnte Passarge zur Untermiete bei einem Rentnerehepaar in Offenbach. Er nutze keinen Decknamen, wurde bei Treffen mit Kollegen vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) korrekt als »Erich vom FDGB aus Berlin« vorgestellt. Nach dem KPD-Verbot gab es für Erich und seine Kollegen die strikte Anweisung, keinen Kontakt zu den Genossen aufzunehmen, um diese und sich selbst nicht zu gefährden. Auch wurde ihnen eingeschärft, sich von Mitarbeitern des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit fernzuhalten, um auch da nichts zu riskieren.
Trotzdem wurden Passarge von der Staatsanwaltschaft Bestrebungen gegen die verfassungsmäßige Ordnung der BRD, Fortführung der illegalen KPD und Nachrichtenübermittlung vorgeworfen. Wie sich herausstellte, hatte der Kurier, der Passarges Tätigkeitsberichte zum FDGB nach Ostberlin brachte und von dort Ratschläge holte, die Papiere vor der Abgabe immer dem Verfassungsschutz zum Fotokopieren gezeigt. Drei dicke Aktenordner wurden mit den Kopien gefüllt. Zwar war die Staatssicherheit dem »Maulwurf« auf der Spur - doch zu spät.
Am 24. Oktober 1957 wurde Erich Passarge mit einem Kollegen in Kassel verhaftet. Das Angebot, mit dem Verfassungsschutz zu kooperieren und Namen und Adressen zu verraten, lehnte er ab. Sein Rechtsanwalt machte ihm bald klar, dass bei einem Schauprozess ein Exempel statuiert werden soll, um Kontakte unter Gewerkschaftsleuten aus Ost und West zu unterbinden. Es wurmt Passarge bis heute, dass ihn ein Richter zu drei Jahren Haft verdonnerte, der in der Nazizeit deutsche und dänische Widerstandskämpfer zum Tode verurteilt hatte. Das findet sich auch in westdeutschen Zeitungen von damals - samt der versuchten Ehrenrettung, der Jurist habe in Kontakt zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 gestanden und seinerzeit möglichst milde geurteilt.
Erich Passarge hatte den Zweiten Weltkrieg als Sanitätssoldat an der Ostfront mitgemacht - noch heute gellen die Schreie der Verwundeten in seinen Ohren. Sein Stiefvater war ursprünglich Kommunist, trat aber 1939 in die NSDAP ein - mit der Entschuldigung, er halte Hitler zugute, dass dieser die Arbeitslosigkeit beseitigt habe. Verblendet glaubte der junge Erich, er müsse die Heimat verteidigen. Doch schon als Soldat und dann in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und auf einer Antifa-Schule begann er, anders zu denken.
Im Gefängnis in Kassel sei er vom Anstaltspersonal anständig behandelt worden, versichert Passarge. Trotzdem sei es hart gewesen, eingesperrt zu sein. In Berlin wartete Passarges Frau mit zwei kleinen Kindern - Sohn und Tochter. Wenigstens litt die Familie keine Armut, für sie wurde gesorgt, berichtet der 96-Jährige. Ein Foto, das im Dezember 1959 im »nd« veröffentlicht wurde, zeigt die Frau und die beiden Kinder, wie sie ohne den Vater Weihnachten feiern mussten. Erich Passarge motivierte sich zum Durchhalten, indem er sich immer wieder sagte: »Ernst Thälmann hat zwölf Jahre gesessen und ist hingerichtet worden. Da wirst du doch noch ein Jahr durchstehen.« Einen Antrag, nach Verbüßung von zwei Jahren Haft vorzeitig entlassen zu werden, stellte er gar nicht erst. Ein Antrag auf vorzeitige Entlassung eines Mitangeklagten war zuvor abgelehnt worden. Dem wollte sich Passarge nicht aussetzen. Der Anstaltsleiter beantragte dann, bei dem vorbildlichen Häftling Gnade walten zu lassen. Vergeblich! Von den drei Jahren wurden Passarge am Ende nur zwei Tage erlassen.
Als er wieder in der DDR war, gönnte man ihm eine Erholungsreise nach Bulgarien und eine Fahrt mit dem FDGB-Ferienschiff »Völkerfreundschaft«. Außerdem durfte er eine Delegation in die Sowjetunion begleiten, die er zuvor nur als Soldat und Kriegsgefangener gesehen hatte und nun als Freund besuchte, wie er sich das gewünscht hatte.
Beruflich stieg Passarge zum persönlichen Referenten des FDGB-Vorsitzenden Herbert Warnke auf, blieb es aber nur kurz. Denn damals wurden hohe moralische Ansprüche an das Privatleben von Funktionären gelegt. Nach einem Seitensprung - seine erste Ehe zerbrach daran - wurde er in die Provinz geschickt und arbeitete sieben Jahre lang beim FDGB-Kreisvorstand in Bernau und danach fünf Jahre bei der dortigen SED-Kreisleitung. Er musste Berichte der Betriebsparteileitungen auswerten und einen Monatsbericht an die SED-Bezirksleitung Frankfurt (Oder) abfassen. Damit kam er nicht zu Rande, »weil Monat für Monat nur ein geschönter Bericht akzeptiert wurde«. So schreibt es Passarge in seiner Autobiografie »Gekämpft und doch verloren«, die 2006 bei Rohnstock-Biografien erschien. Ein oder zwei negative Punkte seien noch zugelassen worden, »auf keinen Fall mehr«. Er ist überzeugt, dass diese Schönfärberei politischen und ökonomischen Schaden anrichtete. »Wir verbauten uns so Wege für richtige volkswirtschaftliche Entscheidungen.« In der Kaderabteilung des Palasts der Republik fand Passarge im September 1975 eine ihn erfüllende Aufgabe. Da war der Palast noch gar nicht eröffnet. Passarge beteiligte sich an der Suche nach geeignetem Personal für den Bereich Technik. Er blieb bis zum Schluss im September 1990 - die letzten Jahre allerdings war er bereits Invalidenrentner und hatte nur noch eine Teilzeitbeschäftigung am Einlass. Dass der Palast abgerissen wurde, schmerzt ihn.
Bis zu seinem 70. Lebensjahr verdiente sich Passarge dann in einem Westberliner Restaurant ein paar Mark als Tellerwäscher zu seiner Rente hinzu. Er spülte dort Töpfe. Als 80-Jähriger reiste er noch einmal zu Stationen seines Lebens. Die Justizvollzugsanstalt gewährte dabei sogar seine Bitte, seine alte Zelle besichtigen zu dürfen.
Seinen als Kriegsgefangener gewonnenen politischen Einsichten ist er treu geblieben. Der Linkspartei hat er schweren Herzens den Rücken gekehrt, als die DDR 2014 in der Präambel des Thüringer Koalitionsvertrags von Linke, SPD und Grünen als Unrechtsstaat bezeichnet wurde. Passarge ist keineswegs verbittert und auch kein Dogmatiker. Doch mit Blick auf die politischen Häftlinge in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre geht ihm die Formulierung DDR-Unrechtsstaat gegen den Strich. Immerhin hat er beim Besuch seiner alten Zelle einen Satz gehört, der die historischen Ereignisse in einem versöhnenden Ton gut beschreibt: »Ihr habt unsere eingesperrt und wir haben eure eingesperrt.«
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