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Der Aufbruch und die Frauen

Zahlreiche Autorinnen ergründen in einer Flugschrift die belarussische Revolution

  • Ingo Petz
  • Lesedauer: 6 Min.

Was ist das für eine Angst, die die Belarussen seit Jahrhunderten hindert, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen? Die Dichterin Julia Cimafiejeva hat eine poetische Antwort auf diese Frage gefunden. In dem Gedicht »Der Angststein« schreibt sie: »Als Erbstück erhielt ich meine Angst - eine Familienreliquie, ein wertvoller Stein, weitergegeben von Generation zu Generation.« Der Stein »trinkt dein Blut und saugt deine Lebenskraft. Der Stein gewöhnt dir ab, aus voller Brust zu atmen.«

Offensichtlich wird diese tief verwurzelte Angst in den letzten Wochen und Monaten überwunden. Seit dem 9. August - dem Tag, als sich der langjährige Autokrat Alexander Lukaschenko bei den Präsidentschaftswahlen mal wieder mit über 80 Prozent der Stimmen bedachte und damit die größten Proteste in der Geschichte des osteuropäischen Landes auslöste - machen die Belarussen unmissverständlich und auf beeindruckend friedliche Art und Weise klar: Sie wollen keine Untertanen mehr sein. Sie wollen staatsbürgerliche Verantwortung übernehmen. Dafür lassen sie sich Tag für Tag, Woche für Woche massenweise verhaften, prügeln und auch foltern. Seit 1991 existiert die Republik Belarus, seit 1994 herrscht Lukaschenko. Und lange Zeit haben sich die Belarussen mit harter Hand vom Landesväterchen beherrschen lassen. Nun soll er verschwinden. »Uchodi!«, rufen die Menschen in den Straßen von Minsk, Brest, Hrodna oder Gomel.

Es waren vor allem Frauen, die den Aufstand in den ersten Wochen prägten. Mit kreativen Plakaten und Aktionen. Bei den Frauenmärschen, bei all den Flashmobs, die aus Solidarität organisiert wurden. Es waren auch drei Frauen, die die Belarussen vereinen konnten, wie es in den Jahren zuvor kein Oppositionsführer geschafft hatte: Maria Kalesnikawa, die Wahlkampfleiterin des potenziellen Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko, der bereits im Juni verhaftet worden war. Veronika Zepkalo, die Ehefrau von Valeri Zepkalo, ebenfalls ein potenzieller Präsidentschaftskandidat, der nach Russland floh. Und Svetlana Cichanouskaja, eine Hausfrau und Mutter ohne einschlägige politische Erfahrung, die schließlich Präsidentschaftskandidatin wurde, nachdem man ihren Mann Sjarhej Cichanouski verhaftet hatte.

Das Buch »Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution« hat sich vorgenommen zu ergründen, was in diesem Land gerade vor sich geht und welche Rolle die belarussischen Frauen spielen. Es ist eine Zusammenstellung von Texten, Gedichten, Dokumenten, Einwürfen und Stimmen - ein buntes, ein grelles Kaleidoskop des belarussischen Selbstermächtigungsprozesses. Auch Cimafiejevas Gedicht findet sich in der Kompilation, die von dem Übersetzer Thomas Weiler, der Übersetzerin Tina Wünschmann und der Slawistin Nina Weller in Windeseile auf die Beine gestellt wurde. Das Trio ist auch in dem Internetprojekt »Stimmen aus Belarus« aktiv, das seit August Originaltexte ins Deutsche übersetzt und so Einblicke in die Ereignisse liefert, die in den klassischen Medien nur selten zu finden sind. Es ist dem Berliner Verlag Edition.Fototapeta zu verdanken, dass es dieses wichtige Buch nun gibt. Ein Buch, das versucht, die Proteste soziologisch und politikwissenschaftlich zu erklären, das mit der Vielgestalt der Texte aber gleichzeitig genügend Resonanzräume für Nachdenklichkeit, Widersprüche, Skepsis und viele neue Fragen bietet.

In einem wunderbaren Aufmachertext - gespickt mit Passagen, die man sich am liebsten ausschneiden und an die Wand hängen möchte, beschreibt die Übersetzerin Iryna Herasimovich ihre Versuche, die neue Realität, die sich für die Belarussen aufgetan hat, kennenzulernen und fassbar zu machen, um auch den kleinsten Hinweis auf eine lebenswerte Zukunft ausfindig machen zu können. »Groß ist die Versuchung, die Realität zu erfinden, statt sie kennenzulernen, im letzten Fall wird es oft wieder ambivalent. Wenn man diese Ambivalenzen wahrnimmt, kann man schwer in einem Atemzug hoch erhobenen Hauptes durch die Revolution marschieren, immer wieder ist man gezwungen, stehen zu bleiben, innezuhalten, die eigene Angst zu versorgen, zu überprüfen, was man sieht und inwieweit es einem entspricht.«

Marina Scharlaj fragt in ihrem Text, inwiefern der Aufstand tatsächlich ein feministischer ist. Sie schreibt: »Die Entschlossenheit und Kreativität der Demonstrantinnen konterkariert diese archaische patriarchale Haltung. In weiten Teilen der belarussischen Gesellschaft herrscht die Meinung, dass Frauen die Fäden im Hintergrund ziehen und das Leben im Land am Laufen halten. Die protestierenden Frauen zeigen, dass sie sich nicht unterordnen lassen und als ›Kriegerinnen des Lichtes‹ für die Zukunft ihrer Heimat, ihres Volkes und ihrer Kinder ›spazieren gehen‹.«

Gleich im nachfolgenden Text stellt Irina Solomatina in Abrede, dass die Revolution feministisch geprägt sei, was bereits auf den demokratischen Pluralismus verweist, der in der belarussischen Gesellschaft erwachsen ist und der nicht nur von Lukaschenko unterschätzt wurde, sondern auch von den westlichen Demokratien, die Belarus lange für einen hoffnungsvollen Fall gehalten haben. Fälschlicherweise, weil kaum jemand bemerkt hat, was sich für eine lebendige Bewegung unter der Oberfläche der Autokratie entwickelt hat.

In weiteren Beiträgen werden Gründe für die exzessive Polizeigewalt gesucht. Simone Brunner porträtiert IT-lerinnen, die schon lange an einem Wandel in ihrer Heimat arbeiten. Dann tauchen wir ein in die musikalische Protestkultur und in die Frage, wohin sich Belarus entwickeln könnte. Dazwischen immer wieder: Originaldokumente und Manifeste aus den vergangenen Monaten. Es wird die Frage der Nation diskutiert - die belarussische und die russische - und inwieweit die aktuellen Ereignisse auch die Demokratiesehnsucht der Russen beeinflussen könnte. Es gibt ebenso den Blick in Richtung der großen Perspektiven: Europa und EU.

In Anbetracht der schwelenden innereuropäischen Krisen, die die Stärke der EU seit Jahren unterminieren, wirkt der Beitrag von Hanna Stähle wie ein Hilfeschrei, den man schon während des Euromaidans in der Ukraine vernehmen konnte. Sie schreibt: »Was in Europa oft als selbstverständlich erachtet wird, müssen sich Tausende von Belarussen auf der Straße erkämpfen: die Freiheit. Die Freiheit, sich auf den Straßen der eigenen Stadt sicher zu fühlen. Die Freiheit, nach einer friedlichen Demonstration nicht in einer Gefängniszelle eingesperrt zu werden [...] Die Freiheit, am Leben zu sein. Europa darf den belarussischen Ruf nach Freiheit nicht länger ignorieren.«

Offenbar haben die EU-Europäer den Demokratiewillen der postsowjetischen Nachbarländer jahrelang unterschätzt. Und jetzt, da die älteren Demokratien unter den eigenen Ermüdungserscheinungen und surrealen Attacken von Verschwörungstheoretikern ächzen, machen sich die Belarussen auf, den Werten Mitbestimmung und Selbstermächtigung Leben einzuhauchen. Wenn wir nicht selbst ernüchtert wären, könnte dank der Belarussen eine neue Liebe zu Osteuropa, zur Demokratie, zur Freiheit entstehen.

»Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution«, Andreas Rostek, Thomas Weiler, Nina Weller, Tina Wünschmann et al. Edition.fotoTAPETA, 272 S., br., 15€.

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